"Das
Schweigen der Sirenen" (Titel von Max Brod)
"Beweis
dessen, dass auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung
dienen können: Um sich vor den Sirenen zu bewahren, stopfte sich
Odysseus Wachs in die Ohren und ließ sich am Mast fest schmieden.
Ähnliches hätten natürlich seit jeher alle Reisenden tun können,
außer denen, welche die Sirenen schon aus der Ferne verlockten, aber
es war in der ganzen Welt bekannt, dass dies unmöglich helfen
konnte. Der Sang der Sirenen durchdrang alles, und die Leidenschaft
der Verführten hätte mehr als Ketten und Mast gesprengt. Daran aber
dachte Odysseus nicht, obwohl er davon vielleicht gehört hatte. Er
vertraute vollständig der Handvoll Wachs und dem Gebinde Ketten und
in unschuldiger Freude über seine Mittelchen fuhr er den Sirenen
entgegen.
Nun
haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang,
nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht
denkbar, dass sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem
Schweigen gewiss nicht. Dem Gefühl, aus eigener Kraft sie besiegt zu
haben, der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann
nichts Irdisches widerstehen.
Und
tatsächlich sangen, als Odysseus kam, die gewaltigen Sängerinnen
nicht, sei es, dass sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das
Schweigen beikommen, sei es, dass der Anblick der Glückseligkeit im
Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten
dachte, sie allen Gesang vergessen ließ.
Odysseus
aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte,
sie sängen, und nur er sei behütet, es zu hören. Flüchtig sah er
zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das tiefe Atmen, die tränenvollen
Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den
Arien, die ungehört um ihn verklangen. Bald aber glitt alles an
seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden
förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am
nächsten war, wusste er nichts mehr von ihnen.
Sie
aber – schöner als jemals – streckten und drehten sich, ließen
das schaurige Haar offen im Winde wehen und spannten die Krallen frei
auf den Felsen. Sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den
Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als
möglich erhaschen.
Hätten
die Sirenen Bewusstsein, sie wären damals vernichtet worden. So aber
blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen.
Es
wird übrigens noch ein Anhang hierzu überliefert. Odysseus, sagt
man, war so listenreich, war ein solcher Fuchs, dass selbst die
Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Vielleicht
hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist,
wirklich gemerkt, dass die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den
Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild
entgegengehalten."
Von
Franz Kafka 1917 geschrieben, 1931 posthum veröffentlicht.
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