Ein
Hungerkünstler
In
den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr
zurückgegangen. Während es sich früher gut lohnte, große
derartige Vorführungen in eigener Regie zu veranstalten, ist dies
heute völlig unmöglich. Es waren andere Zeiten. Damals beschäftigte
sich die ganze Stadt mit dem Hungerkünstler; von Hungertag zu
Hungertag stieg die Teilnahme; jeder wollte den Hungerkünstler
zumindest einmal täglich sehn; an den spätern Tagen gab es
Abonnenten, welche tagelang vor dem kleinen Gitterkäfig saßen; auch
in der Nacht fanden Besichtigungen statt, zur Erhöhung der Wirkung
bei Fackelschein; an schönen Tagen wurde der Käfig ins Freie
getragen, und nun waren es besonders die Kinder, denen der
Hungerkünstler gezeigt wurde; während er für die Erwachsenen oft
nur ein Spaß war, an dem sie der Mode halber teilnahmen, sahen die
Kinder staunend, mit offenem Mund, der Sicherheit halber einander bei
der Hand haltend, zu, wie er bleich, im schwarzen Trikot, mit mächtig
vortretenden Rippen, sogar einen Sessel verschmähend, auf
hingestreutem Stroh saß, einmal höflich nickend, angestrengt
lächelnd Fragen beantwortete, auch durch das Gitter den Arm
streckte, um seine Magerkeit befühlen zu lassen, dann aber wieder
ganz in sich selbst versank, um niemanden sich kümmerte, nicht
einmal um den für ihn so wichtigen Schlag der Uhr, die das einzige
Möbelstück des Käfigs war, sondern nur vor sich hinsah mit fast
geschlossenen Augen und hie und da aus einem winzigen Gläschen
Wasser nippte, um sich die Lippen zu feuchten.
Außer
den wechselnden Zuschauern waren auch ständige, vom Publikum
gewählte Wächter da, merkwürdigerweise gewöhnlich Fleischhauer,
welche, immer drei gleichzeitig, die Aufgabe hatten, Tag und Nacht
den Hungerkünstler zu beobachten, damit er nicht etwa auf irgendeine
heimliche Weise doch Nahrung zu sich nehme. Es war das aber lediglich
eine Formalität, eingeführt zur Beruhigung der Massen, denn die
Eingeweihten wussten wohl, dass der Hungerkünstler während der
Hungerzeit niemals, unter keinen Umständen, selbst unter Zwang
nicht, auch das Geringste nur gegessen hätte; die Ehre seiner Kunst
verbot dies. Freilich, nicht jeder Wächter konnte das begreifen, es
fanden sich manchmal nächtliche Wachgruppen, welche die Bewachung
sehr lax durchführten, absichtlich in eine ferne Ecke sich
zusammensetzten und dort sich ins Kartenspiel vertieften, in der
offenbaren Absicht, dem Hungerkünstler eine kleine Erfrischung zu
gönnen, die er ihrer Meinung nach aus irgendwelchen geheimen
Vorräten hervorholen konnte. Nichts war dem Hungerkünstler
quälender als solche Wächter; sie machten ihn trübselig; sie
machten ihm das Hungern entsetzlich schwer; manchmal überwand er
seine Schwäche und sang während dieser Wachzeit, solange er es nur
aushielt, um den Leuten zu zeigen, wie ungerecht sie ihn
verdächtigten. Doch half das wenig; sie wunderten sich dann nur über
seine Geschicklichkeit, selbst während des Singens zu essen. Viel
lieber waren ihm die Wächter, welche sich eng zum Gitter setzten,
mit der trüben Nachtbeleuchtung des Saales sich nicht begnügten,
sondern ihn mit den elektrischen Taschenlampen bestrahlten, die ihnen
der Impresario zur Verfügung stellte. Das grelle Licht störte ihn
gar nicht, schlafen konnte er ja überhaupt nicht, und ein wenig
hindämmern konnte er immer, bei jeder Beleuchtung und zu jeder
Stunde, auch im übervollen, lärmenden Saal. Er war sehr gerne
bereit, mit solchen Wächtern die Nacht gänzlich ohne Schlaf zu
verbringen; er war bereit, mit ihnen zu scherzen, ihnen Geschichten
aus seinem Wanderleben zu erzählen, dann wieder ihre Erzählungen
anzuhören, alles nur um sie wach zu halten, um ihnen immer wieder
zeigen zu können, dass er nichts Essbares im Käfig hatte und dass
er hungerte, wie keiner von ihnen es könnte. Am glücklichsten aber
war er, wenn dann der Morgen kam, und ihnen auf seine Rechnung ein
überreiches Frühstück gebracht wurde, auf das sie sich warfen mit
dem Appetit gesunder Männer nach einer mühevoll durchwachten Nacht.
Es gab zwar sogar Leute, die in diesem Frühstück eine ungebührliche
Beeinflussung der Wächter sehen wollten, aber das ging doch zu weit,
und wenn man sie fragte, ob etwa sie nur um der Sache willen ohne
Frühstück die Nachtwache übernehmen wollten, verzogen sie sich,
aber bei ihren Verdächtigungen blieben sie dennoch.
Dieses
allerdings gehörte schon zu den vom Hungern überhaupt nicht zu
trennenden Verdächtigungen. Niemand war ja imstande, alle die Tage
und Nächte beim Hungerkünstler ununterbrochen als Wächter zu
verbringen, niemand also konnte aus eigener Anschauung wissen, ob
wirklich ununterbrochen, fehlerlos gehungert worden war; nur der
Hungerkünstler selbst konnte das wissen, nur er also gleichzeitig
der von seinem Hungern vollkommen befriedigte Zuschauer sein. Er aber
war wieder aus einem andern Grunde niemals befriedigt; vielleicht war
er gar nicht vom Hungern so sehr abgemagert, dass manche zu ihrem
Bedauern den Vorführungen fernbleiben mussten, weil sie seinen
Anblick nicht ertrugen, sondern er war nur so abgemagert aus
Unzufriedenheit mit sich selbst. Er allein nämlich wusste, auch kein
Eingeweihter sonst wusste das, wie leicht das Hungern war. Es war die
leichteste Sache von der Welt. Er verschwieg es auch nicht, aber man
glaubte ihm nicht, hielt ihn günstigstenfalls für bescheiden, meist
aber für reklamesüchtig oder gar für einen Schwindler, dem das
Hungern allerdings leicht war, weil er es sich leicht zu machen
verstand, und der auch noch die Stirn hatte, es halb zu gestehn. Das
alles musste er hinnehmen, hatte sich auch im Laufe der Jahre daran
gewöhnt, aber innerlich nagte diese Unbefriedigtheit immer an ihm,
und noch niemals, nach keiner Hungerperiode – dieses Zeugnis musste
man ihm ausstellen – hatte er freiwillig den Käfig verlassen. Als
Höchstzeit für das Hungern hatte der Impresario vierzig Tage
festgesetzt, darüber hinaus ließ er niemals hungern, auch in den
Weltstädten nicht, und zwar aus gutem Grund. Vierzig Tage etwa
konnte man erfahrungsgemäß durch allmählich sich steigernde
Reklame das Interesse einer Stadt immer mehr aufstacheln, dann aber
versagte das Publikum, eine wesentliche Abnahme des Zuspruchs war
festzustellen; es bestanden natürlich in dieser Hinsicht kleine
Unterschiede zwischen den Städten und Ländern, als Regel aber galt,
dass vierzig Tage die Höchstzeit war. Dann also am vierzigsten Tage
wurde die Tür des mit Blumen umkränzten Käfigs geöffnet, eine
begeisterte Zuschauerschaft erfüllte das Amphitheater, eine
Militärkapelle spielte, zwei Ärzte betraten den Käfig, um die
nötigen Messungen am Hungerkünstler vorzunehmen, durch ein Megaphon
wurden die Resultate dem Saale verkündet, und schließlich kamen
zwei junge Damen, glücklich darüber, dass gerade sie ausgelost
worden waren, und wollten den Hungerkünstler aus dem Käfig ein paar
Stufen hinab führen, wo auf einem kleinen Tischchen eine sorgfältig
ausgewählte Krankenmahlzeit serviert war. Und in diesem Augenblick
wehrte sich der Hungerkünstler immer. Zwar legte er noch freiwillig
seine Knochenarme in die hilfsbereit ausgestreckten Hände der zu ihm
hinab gebeugten Damen, aber aufstehen wollte er nicht. Warum gerade
jetzt nach vierzig Tagen aufhören? Er hätte es noch lange,
unbeschränkt lange ausgehalten; warum gerade jetzt aufhören, wo er
im besten, ja noch nicht einmal im besten Hungern war? Warum wollte
man ihn des Ruhmes berauben, weiter zu hungern, nicht nur der größte
Hungerkünstler aller Zeiten zu werden, der er ja wahrscheinlich
schon war, aber auch noch sich selbst zu übertreffen bis ins
Unbegreifliche, denn für seine Fähigkeit zu hungern fühlte er
keine Grenzen. Warum hatte diese Menge, die ihn so sehr zu bewundern
vorgab, so wenig Geduld mit ihm; wenn er es aushielt, noch weiter zu
hungern, warum wollte sie es nicht aushalten? Auch war er müde, saß
gut im Stroh und sollte sich nun hoch und lang aufrichten und zu dem
Essen gehn, das ihm schon allein in der Vorstellung Übelkeiten
verursachte, deren Äußerung er nur mit Rücksicht auf die Damen
mühselig unterdrückte. Und er blickte empor in die Augen der
scheinbar so freundlichen, in Wirklichkeit so grausamen Damen und
schüttelte den auf dem schwachen Halse überschweren Kopf. Aber dann
geschah, was immer geschah. Der Impresario kam, hob stumm – die
Musik machte das Reden unmöglich – die Arme über dem
Hungerkünstler, so, als lade er den Himmel ein, sich sein Werk hier
auf dem Stroh einmal anzusehn, diesen bedauernswerten Märtyrer,
welcher der Hungerkünstler allerdings war, nur in ganz anderem Sinn;
fasste den Hungerkünstler um die dünne Taille, wobei er durch
übertriebene Vorsicht glaubhaft machen wollte, mit einem wie
gebrechlichen Ding er es hier zu tun habe; und übergab ihn – nicht
ohne ihn im Geheimen ein wenig zu schütteln, so dass der
Hungerkünstler mit den Beinen und dem Oberkörper unbeherrscht hin
und her schwankte – den inzwischen totenbleich gewordenen Damen.
Nun duldete der Hungerkünstler alles; der Kopf lag auf der Brust, es
war, als sei er hin gerollt und halte sich dort unerklärlich; der
Leib war ausgehöhlt; die Beine drückten sich im
Selbsterhaltungstrieb fest in den Knien aneinander, scharrten aber
doch den Boden, so, als sei es nicht der wirkliche, den wirklichen
suchten sie erst; und die ganze, allerdings sehr kleine Last des
Körpers lag auf einer der Damen, welche Hilfe suchend, mit
fliegendem Atem – so hatte sie sich dieses Ehrenamt nicht
vorgestellt – zuerst den Hals möglichst streckte, um wenigstens
das Gesicht vor der Berührung mit dem Hungerkünstler zu bewahren,
dann aber, da ihr dies nicht gelang und ihre glücklichere Gefährtin
ihr nicht zu Hilfe kam, sondern sich damit begnügte, zitternd die
Hand des Hungerkünstlers, dieses kleine Knochenbündel, vor sich her
zu tragen, unter dem entzückten Gelächter des Saales in Weinen
ausbrach und von einem längst bereit gestellten Diener abgelöst
werden musste. Dann kam das Essen, von dem der Impresario dem
Hungerkünstler während eines ohnmachtähnlichen Halbschlafes ein
wenig einflößte, unter lustigem Plaudern, das die Aufmerksamkeit
vom Zustand des Hungerkünstlers ablenken sollte; dann wurde noch ein
Trinkspruch auf das Publikum ausgebracht, welcher dem Impresario
angeblich vom Hungerkünstler zugeflüstert worden war; das Orchester
bekräftigte alles durch einen großen Tusch, man ging auseinander,
und niemand hatte das Recht, mit dem Gesehenen unzufrieden zu sein,
niemand, nur der Hungerkünstler, immer nur er.
So
lebte er mit regelmäßigen kleinen Ruhepausen viele Jahre, in
scheinbarem Glanz, von der Welt geehrt, bei alledem aber meist in
trüber Laune, die immer noch trüber wurde dadurch, dass niemand sie
ernst zu nehmen verstand. Womit sollte man ihn auch trösten? Was
blieb ihm zu wünschen übrig? Und wenn sich einmal ein Gutmütiger
fand, der ihn bedauerte und ihm erklären wollte, dass seine
Traurigkeit wahrscheinlich von dem Hungern käme, konnte es,
besonders bei vorgeschrittener Hungerzeit, geschehn, dass der
Hungerkünstler mit einem Wutausbruch antwortete und zum Schrecken
aller wie ein Tier an dem Gitter zu rütteln begann. Doch hatte für
solche Zustände der Impresario ein Strafmittel, das er gern
anwandte. Er entschuldigte den Hungerkünstler vor versammeltem
Publikum, gab zu, dass nur die durch das Hungern hervorgerufene, für
satte Menschen nicht ohne weiteres begreifliche Reizbarkeit das
Benehmen des Hungerkünstlers verzeihlich machen könne; kam dann im
Zusammenhang damit auch auf die ebenso zu erklärende Behauptung des
Hungerkünstlers zu sprechen, er könnte noch viel länger hungern,
als er hungere; lobte das hohe Streben, den guten Willen, die große
Selbstverleugnung, die gewiss auch in dieser Behauptung enthalten
seien; suchte dann aber die Behauptung einfach genug durch Vorzeigen
von Photographien, die gleichzeitig verkauft wurden, zu widerlegen,
denn auf den Bildern sah man den Hungerkünstler an einem vierzigsten
Hungertag, im Bett, fast verlöscht vor Entkräftung. Diese dem
Hungerkünstler zwar wohl bekannte, immer aber von neuem ihn
entnervende Verdrehung der Wahrheit war ihm zu viel. Was die Folge
der vorzeitigen Beendigung des Hungerns war, stellte man hier als die
Ursache dar! Gegen diesen Unverstand, gegen diese Welt des
Unverstandes zu kämpfen, war unmöglich. Noch hatte er immer wieder
in gutem Glauben begierig am Gitter dem Impresario zugehört, beim
Erscheinen der Photographien aber ließ er das Gitter jedes Mal los,
sank mit Seufzen ins Stroh zurück, und das beruhigte Publikum konnte
wieder herankommen und ihn besichtigen.
Wenn
die Zeugen solcher Szenen ein paar Jahre später daran zurück
dachten, wurden sie sich oft selbst unverständlich. Denn inzwischen
war jener erwähnte Umschwung eingetreten; fast plötzlich war das
geschehen; es mochte tiefere Gründe haben, aber wem lag daran, sie
aufzufinden; jedenfalls sah sich eines Tages der verwöhnte
Hungerkünstler von der vergnügungssüchtigen Menge verlassen, die
lieber zu anderen Schaustellungen strömte. Noch einmal jagte der
Impresario mit ihm durch halb Europa, um zu sehn, ob sich nicht noch
hie und da das alte Interesse wieder fände; alles vergeblich; wie in
einem geheimen Einverständnis hatte sich überall geradezu eine
Abneigung gegen das Schauhungern ausgebildet. Natürlich hatte das in
Wirklichkeit nicht plötzlich so kommen können, und man erinnerte
sich jetzt nachträglich an manche zu ihrer Zeit im Rausch der
Erfolge nicht genügend beachtete, nicht genügend unterdrückte
Vorboten, aber jetzt etwas dagegen zu unternehmen, war zu spät. Zwar
war es sicher, dass einmal auch für das Hungern wieder die Zeit
kommen werde, aber für die Lebenden war das kein Trost. Was sollte
nun der Hungerkünstler tun? Der, welchen Tausende umjubelt hatten,
konnte sich nicht in Schaubuden auf kleinen Jahrmärkten zeigen, und
um einen andern Beruf zu ergreifen, war der Hungerkünstler nicht nur
zu alt, sondern vor allem dem Hungern allzu fanatisch ergeben. So
verabschiedete er denn den Impresario, den Genossen einer Laufbahn
ohnegleichen, und ließ sich von einem großen Zirkus engagieren; um
seine Empfindlichkeit zu schonen, sah er die Vertragsbedingungen gar
nicht an.
Ein
großer Zirkus mit seiner Unzahl von einander immer wieder
ausgleichenden und ergänzenden Menschen und Tieren und Apparaten
kann jeden und zu jeder Zeit gebrauchen, auch einen Hungerkünstler,
bei entsprechend bescheidenen Ansprüchen natürlich, und außerdem
war es ja in diesem besonderen Fall nicht nur der Hungerkünstler
selbst, der engagiert wurde, sondern auch sein alter berühmter Name,
ja man konnte bei der Eigenart dieser im zunehmenden Alter nicht
abnehmenden Kunst nicht einmal sagen, dass ein ausgedienter, nicht
mehr auf der Höhe seines Könnens stehender Künstler sich in einen
ruhigen Zirkusposten flüchten wolle, im Gegenteil, der
Hungerkünstler versicherte, dass er, was durchaus glaubwürdig war,
ebenso gut hungere wie früher, ja er behauptete sogar, er werde,
wenn man ihm seinen Willen lasse, und dies versprach man ihm ohne
weiteres, eigentlich erst jetzt die Welt in berechtigtes Erstaunen
setzen, eine Behauptung allerdings, die mit Rücksicht auf die
Zeitstimmung, welche der Hungerkünstler im Eifer leicht vergaß, bei
den Fachleuten nur ein Lächeln hervorrief.
Im
Grunde aber verlor auch der Hungerkünstler den Blick für die
wirklichen Verhältnisse nicht und nahm es als selbstverständlich
hin, dass man ihn mit seinem Käfig nicht etwa als Glanznummer mitten
in die Manege stellte, sondern draußen an einem im übrigen recht
gut zugänglichen Ort in der Nähe der Stallungen unterbrachte.
Große, bunt gemalte Aufschriften umrahmten den Käfig und
verkündeten, was dort zu sehen war. Wenn das Publikum in den Pausen
der Vorstellung zu den Ställen drängte, um die Tiere zu
besichtigen, war es fast unvermeidlich, dass es beim Hungerkünstler
vorüber kam und ein wenig dort Halt machte, man wäre vielleicht
länger bei ihm geblieben, wenn nicht in dem schmalen Gang die
Nachdrängenden, welche diesen Aufenthalt auf dem Weg zu den
ersehnten Ställen nicht verstanden, eine längere ruhige Betrachtung
unmöglich gemacht hätten. Dieses war auch der Grund, warum der
Hungerkünstler vor diesen Besuchszeiten, die er als seinen
Lebenszweck natürlich herbeiwünschte, doch auch wieder zitterte. In
der ersten Zeit hatte er die Vorstellungspausen kaum erwarten können;
entzückt hatte er der sich heran wälzenden Menge entgegen gesehn,
bis er sich nur zu bald – auch die hartnäckigste, fast bewusste
Selbsttäuschung hielt den Erfahrungen nicht stand – davon
überzeugte, dass es zumeist der Absicht nach, immer wieder,
ausnahmslos, lauter Stallbesucher waren. Und dieser Anblick von der
Ferne blieb noch immer der schönste. Denn wenn sie bis zu ihm
herangekommen waren, umtobte ihn sofort Geschrei und Schimpfen der
ununterbrochen neu sich bildenden Parteien, jener, welche – sie
wurde dem Hungerkünstler bald die peinlichere – ihn bequem ansehen
wollte, nicht etwa aus Verständnis, sondern aus Laune und Trotz, und
jener zweiten, die zunächst nur nach den Ställen verlangte. War der
große Haufe vorüber, dann kamen die Nachzügler, und diese
allerdings, denen es nicht mehr verwehrt war, stehen zu bleiben,
solange sie nur Lust hatten, eilten mit langen Schritten, fast ohne
Seitenblick, vorüber, um rechtzeitig zu den Tieren zu kommen. Und es
war kein allzu häufiger Glücksfall, dass ein Familienvater mit
seinen Kindern kam, mit dem Finger auf den Hungerkünstler zeigte,
ausführlich erklärte, um was es sich hier handelte, von früheren
Jahren erzählte, wo er bei ähnlichen, aber unvergleichlich
großartigeren Vorführungen gewesen war, und dann die Kinder, wegen
ihrer ungenügenden Vorbereitung von Schule und Leben her, zwar immer
noch verständnislos blieben – was war ihnen Hungern? – aber doch
in dem Glanz ihrer forschenden Augen etwas von neuen, kommenden,
gnädigeren Zeiten verrieten. Vielleicht, so sagte sich der
Hungerkünstler dann manchmal, würde alles doch ein wenig besser
werden, wenn sein Standort nicht gar so nahe bei den Ställen wäre.
Den Leuten wurde dadurch die Wahl zu leicht gemacht, nicht zu reden
davon, dass ihn die Ausdünstungen der Ställe, die Unruhe der Tiere
in der Nacht, das Vorübertragen der rohen Fleischstücke für die
Raubtiere, die Schreie bei der Fütterung sehr verletzten und dauernd
bedrückten. Aber bei der Direktion vorstellig zu werden, wagte er
nicht; immerhin verdankte er ja den Tieren die Menge der Besucher,
unter denen sich hie und da auch ein für ihn Bestimmter finden
konnte, und wer wusste, wohin man ihn verstecken würde, wenn er an
seine Existenz erinnern wollte und damit auch daran, dass er, genau
genommen, nur ein Hindernis auf dem Weg zu den Ställen war.
Ein
kleines Hindernis allerdings, ein immer kleiner werdendes Hindernis.
Man gewöhnte sich an die Sonderbarkeit, in den heutigen Zeiten
Aufmerksamkeit für einen Hungerkünstler beanspruchen zu wollen, und
mit dieser Gewöhnung war das Urteil über ihn gesprochen. Er mochte
so gut hungern, als er nur konnte, und er tat es, aber nichts konnte
ihn mehr retten, man ging an ihm vorüber. Versuche, jemandem die
Hungerkunst zu erklären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht
begreiflich machen. Die schönen Aufschriften wurden schmutzig und
unleserlich, man riss sie herunter, niemandem fiel es ein, sie zu
ersetzen; das Täfelchen mit der Ziffer der abgeleisteten Hungertage,
das in der ersten Zeit sorgfältig täglich erneuert worden war,
blieb schon längst immer das gleiche, denn nach den ersten Wochen
war das Personal selbst dieser kleinen Arbeit überdrüssig geworden;
und so hungerte zwar der Hungerkünstler weiter, wie er es früher
einmal erträumt hatte, und es gelang ihm ohne Mühe ganz so, wie er
es damals vorausgesagt hatte, aber niemand zählte die Tage, niemand,
nicht einmal der Hungerkünstler selbst wusste, wie groß die
Leistung schon war, und sein Herz wurde schwer. Und wenn einmal in
der Zeit ein Müßiggänger stehen blieb, sich über die alte Ziffer
lustig machte und von Schwindel sprach, so war das in diesem Sinn die
dümmste Lüge, welche Gleichgültigkeit und eingeborene Bösartigkeit
erfinden konnte, denn nicht der Hungerkünstler betrog, er arbeitete
ehrlich, aber die Welt betrog ihn um seinen Lohn.
Doch
vergingen wieder viele Tage, und auch das nahm ein Ende. Einmal fiel
einem Aufseher der Käfig auf, und er fragte die Diener, warum man
hier diesen gut brauchbaren Käfig mit dem verfaulten Stroh drinnen
unbenützt stehen lasse; niemand wusste es, bis sich einer mit Hilfe
der Ziffertafel an den Hungerkünstler erinnerte. Man rührte mit
Stangen das Stroh auf und fand den Hungerkünstler darin. "Du
hungerst noch immer?" fragte der Aufseher, "wann wirst du
denn endlich aufhören?" "Verzeiht mir alle",
flüsterte der Hungerkünstler; nur der Aufseher, der das Ohr ans
Gitter hielt, verstand ihn. "Gewiss", sagte der Aufseher
und legte den Finger an die Stirn, um damit den Zustand des
Hungerkünstlers dem Personal anzudeuten, "wir verzeihen dir."
"Immerfort wollte ich, dass ihr mein Hungern bewundert",
sagte der Hungerkünstler. "Wir bewundern es auch", sagte
der Aufseher entgegenkommend. "Ihr sollt es aber nicht
bewundern", sagte der Hungerkünstler. "Nun, dann bewundern
wir es also nicht", sagte der Aufseher, "warum sollen wir
es denn nicht bewundern?" "Weil ich hungern muss, ich kann
nicht anders", sagte der Hungerkünstler. "Da sieh mal
einer", sagte der Aufseher, "warum kannst du denn nicht
anders?" "Weil ich", sagte der Hungerkünstler, hob
das Köpfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuss gespitzten Lippen
gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verloren ginge,
"weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt.
Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht
und mich voll gegessen wie du und alle." Das waren die letzten
Worte, aber noch in seinen gebrochenen Augen war die feste, wenn auch
nicht mehr stolze Überzeugung, dass er weiter hungere.
"Nun
macht aber Ordnung!" sagte der Aufseher, und man begrub den
Hungerkünstler samt dem Stroh. In den Käfig aber gab man einen
jungen Panther. Es war eine selbst dem stumpfsten Sinn fühlbare
Erholung, in dem so lange öden Käfig dieses wilde Tier sich herum
werfen zu sehn. Ihm fehlte nichts. Die Nahrung, die ihm schmeckte,
brachten ihm ohne langes Nachdenken die Wächter; nicht einmal die
Freiheit schien er zu vermissen; dieser edle, mit allem Nötigen bis
knapp zum Zerreißen ausgestattete Körper schien auch die Freiheit
mit sich herum zu tragen; irgendwo im Gebiss schien sie zu stecken;
und die Freude am Leben kam mit derart starker Glut aus seinem
Rachen, dass es für die Zuschauer nicht leicht war, ihr stand zu
halten. Aber sie überwanden sich, umdrängten den Käfig und wollten
sich gar nicht fort rühren.
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