Robinsons
Besuch im Hotel/Vollrausch/Renells Bett/Posten verlassen/Oberportier
Feodor/Oberkellner Isbary/
Oberköchin/Gerichtssitzung/Oberportier/Bess/Flucht/Entkommen!
Da
klopfte ihm jemand auf die Schulter. Josie, der natürlich dachte, es
wäre ein Gast, steckte den Apfel eiligst in die Tasche und eilte,
kaum dass er den Mann ansah, zum Aufzug hin. "Guten Abend, Herr
Rossmann", sagte nun aber der Mann, "ich bin es, Robinson."
"Sie haben sich aber verändert", sagte Josie und
schüttelte den Kopf. "Ja, es geht mir gut", sagte Robinson
und sah an seiner Kleidung hinunter, die vielleicht aus genug feinen
Stücken bestand, aber so zusammengewürfelt war, dass sie geradezu
schäbig aussah. Das Auffallendste war eine offenbar zum ersten Mal
getragene, weiße Weste mit vier kleinen schwarz eingefassten
Täschchen, auf die Robinson auch durch Vorstrecken der Brust
aufmerksam zu machen suchte. "Sie haben teure Kleider",
sagte Josie und dachte flüchtig an sein schönes, einfaches Kleid,
in dem er sogar neben Renell hätte bestehen können und das die zwei
schlechten Freunde verkauft hatten. "Ja", sagte Robinson,
"ich kaufe mir fast jeden Tag irgendetwas. Wie gefällt ihnen
die Weste?" "Ganz gut", sagte Josie. "Es sind
aber keine wirklichen Taschen, das ist nur so gemacht", sagte
Robinson und fasste Josie bei der Hand, damit sich dieser selbst
davon überzeuge. Aber Josie wich zurück, denn aus Robinsons Mund
kam ein unerträglicher Branntweingeruch. "Sie trinken wieder
viel", sagte Josie und stand schon wieder am Geländer. "Nein",
sagte Robinson, "nicht viel", und fügte im Widerspruch zu
seiner früheren Zufriedenheit hinzu: "Was hat der Mensch sonst
auf der Welt." Eine Fahrt unterbrach das Gespräch und, kaum war
Josie wieder unten, erfolgte ein telefonischer Anruf, laut dessen
Josie den Hotelarzt holen sollte, da eine Dame im siebenten Stockwerk
einen Ohnmachtsanfall erlitten hatte. Während dieses Weges hoffte
Josie im Geheimen, dass Robinson sich inzwischen entfernt haben
werde, denn er wollte nicht mit ihm gesehen werden und in Gedanken an
Theresens Warnung auch von Delamarche nichts hören. Aber Robinson
wartete noch in der steifen Haltung eines Vollgetrunkenen und gerade
ging ein höherer Hotelbeamter im schwarzen Gehrock und Zylinderhut
vorüber, ohne glücklicherweise Robinson, wie es schien, besonders
zu beachten. "Wollen Sie, Rossmann, nicht einmal zu uns kommen,
wir haben es jetzt sehr fein", sagte Robinson und sah Josie
lockend an. "Laden Sie mich ein oder Delamarche?" fragte
Josie. "Ich und Delamarche. Wir sind darin einig", sagte
Robinson. "Dann sage ich Ihnen und bitte Sie Delamarche das
Gleiche auszurichten: Unser Abschied war, wenn das nicht schon an und
für sich klar gewesen sein sollte, ein endgültiger. Sie beide haben
mir mehr Leid getan, als irgendjemand. Haben Sie sich vielleicht in
den Kopf gesetzt, mich auch weiterhin nicht in Ruhe zu lassen?"
"Wir sind doch ihre Kameraden", sagte Robinson und
widerliche Tränen der Trunkenheit stiegen ihm in die Augen.
"Delamarche lässt Ihnen sagen, dass er Sie für alles Frühere
entschädigen will. Wir wohnen jetzt mit Brunelda zusammen, einer
herrlichen Sängerin." Und im Anschluss daran wollte er gerade
ein Lied in hohen Tönen singen, wenn ihn nicht Josie noch
rechtzeitig angezischt hätte: "Schweigen Sie aber
augenblicklich, wissen Sie denn nicht, wo Sie sind." "Rossmann",
sagte Robinson, nur rücksichtlich des Singens eingeschüchtert, "ich
bin doch ihr Kamerad, sagen Sie, was Sie wollen. Und nun haben Sie
hier so eine schöne Position, könnten Sie mir einiges Geld
überlassen." "Sie vertrinken es ja bloß wieder",
sagte Josie, "da sehe ich sogar in ihrer Tasche irgendeine
Branntweinflasche, aus der Sie gewiss, während ich weg war,
getrunken haben, denn anfangs waren Sie ja noch ziemlich bei Sinnen."
"Das ist nur zur Stärkung, wenn ich auf einem Wege bin",
sagte Robinson entschuldigend. "Ich will Sie ja nicht mehr
bessern", sagte Josie. "Aber das Geld!" sagte Robinson
mit aufgerissenen Augen. "Sie haben wohl von Delamarche den
Auftrag bekommen Geld mitzubringen. Gut, ich gebe Ihnen Geld, aber
nur unter der Bedingung, dass Sie sofort von hier fortgehn und
niemals mehr mich hier besuchen. Wenn Sie nur etwas mitteilen wollen,
schreiben Sie an mich. Josie Rossmann, Liftjunge, Hotel Occidental,
genügt als Adresse. Aber hier dürfen Sie, das wiederhole ich, mich
nicht mehr aufsuchen. Hier bin ich im Dienst und habe keine Zeit für
Besuche. Wollen Sie also das Geld unter dieser Bedingung?"
fragte Josie und griff in die Westentasche, denn er war entschlossen,
das Trinkgeld der heutigen Nacht zu opfern. Robinson nickte bloß zu
der Frage und atmete schwer. Josie deutete das unrichtig und fragte
nochmals: "Ja oder nein?"
Da
winkte ihn Robinson zu sich heran und flüsterte unter
Schlingbewegungen, die schon ganz deutlich waren: "Rossmann, mir
ist sehr schlecht." "Zum Teufel", entfuhr es Josie und
mit beiden Händen schleppte er ihn zum Geländer.
Und
schon ergoss es sich aus Robinsons Mund in die Tiefe. Hilflos strich
er in den Pausen, die ihm seine Übelkeit ließ, blindlings an Josie
hin. "Sie sind wirklich ein guter Junge", sagte er dann
oder "es hört schon auf", was aber noch lange nicht
richtig war, oder "die Hunde, was haben sie mir dort für ein
Zeug eingegossen!" Josie hielt es vor Unruhe und Ekel bei ihm
nicht aus und begann auf und ab zu gehen. Hier im Winkel neben dem
Aufzug war ja Robinson ein wenig versteckt, aber wie, wenn ihn doch
jemand bemerkte, einer dieser nervösen, reichen Gäste, die nur
darauf warten, dem herbei laufenden Hotelbeamten eine Beschwerde
mitzuteilen, für welche dieser dann wütend am ganzen Hause Rache
nimmt oder wenn einer dieser immerfort wechselnden Hoteldetektive
vorüber käme, die niemand kennt, außer die Direktion, und die man
in jedem Menschen vermutet, der prüfende Blicke, vielleicht auch
bloß aus Kurzsichtigkeit, macht. Und unten brauchte nur jemand bei
dem die ganze Nacht nicht aussetzenden Restaurationsbetrieb in die
Vorratskammern zu gehn, staunend die Scheußlichkeit im Lichtschacht
zu bemerken und Josie telefonisch anzufragen, was denn um
Himmelswillen da oben los sei. Konnte Josie dann Robinson verleugnen?
Und wenn er es täte, würde sich nicht Robinson in seiner Dummheit
und Verzweiflung statt aller Entschuldigung gerade nur auf Josie
berufen? Und musste dann nicht Josie sofort entlassen werden, da dann
das Unerhörte geschehen war, dass ein Liftjunge, der niedrigste und
entbehrlichste Angestellte in der ungeheuren Stufenleiter der
Dienerschaft dieses Hotels, durch seinen Freund das Hotel hatte
beschmutzen und die Gäste erschrecken oder gar vertreiben lassen?
Konnte man einen Liftjungen weiter dulden, der solche Freunde hatte,
von denen er sich überdies während seiner Dienststunden besuchen
ließ? Sah es nicht ganz so aus, als ob ein solcher Liftjunge selbst
ein Säufer oder gar etwas Ärgeres sei, denn welche Vermutung war
einleuchtender, als dass er seine Freunde aus den Vorräten des
Hotels so lange überfütterte, bis sie an einer beliebigen Stelle
dieses gleichen, peinlich rein gehaltenen Hotels solche Dinge
ausführten, wie jetzt Robinson? Und warum sollte sich ein solcher
Junge auf die Diebstähle von Lebensmitteln beschränken, da doch die
Möglichkeiten zu stehlen, bei der bekannten Nachlässigkeit der
Gäste, den überall offen stehenden Schränken, den auf den Tischen
herum liegenden Kostbarkeiten, den aufgerissenen Kassetten, den
gedankenlos hingeworfenen Schlüsseln wirklich unzählige waren?
Gerade
sah Josie in der Ferne Gäste aus einem Kellerlokal heraufsteigen, in
dem eben eine Varietévorstellung beendet worden war. Josie stellte
sich zu seinem Aufzug und wagte sich gar nicht nach Robinson
umzudrehn, aus Furcht vor dem, was er zu sehn bekommen könnte. Es
beruhigte ihn wenig, dass er keinen Laut, nicht einmal einen Seufzer
von dort hörte. Er bediente zwar seine Gäste und fuhr mit ihnen auf
und ab, aber seine Zerstreutheit konnte er doch nicht ganz verbergen
und bei jeder Abwärtsfahrt war er darauf gefasst, unten eine
peinliche Überraschung vorzufinden.
Endlich
hatte er wieder Zeit nach Robinson zu sehn, der in seinem Winkel ganz
klein kauerte und das Gesicht gegen die Knie drückte. Seinen runden,
harten Hut hatte er weit aus der Stirne geschoben. "Also jetzt
gehn Sie schon", sagte Josie leise und bestimmt, "hier ist
das Geld. Wenn Sie sich beeilen, kann ich Ihnen noch den kürzesten
Weg zeigen." "Ich werde nicht weg gehn können", sagte
Robinson und wischte sich mit einem winzigen Taschentuch die Stirn,
"ich werde hier sterben. Sie können sich nicht vorstellen, wie
schlecht mir ist. Delamarche nimmt mich überall in die feinen Lokale
mit, aber ich vertrage dieses zimperliche Zeug nicht, ich sage es
Delamarche täglich." "Hier können Sie nun einmal nicht
bleiben", sagte Josie, "bedenken Sie doch, wo Sie sind.
Wenn man Sie hier findet, werden Sie bestraft und ich verliere meinen
Posten. Wollen Sie das?" "Ich kann nicht weggehen",
sagte Robinson, "lieber spring ich da hinunter", und er
zeigte zwischen den Geländerstangen in den Lichtschacht. "Wenn
ich hier so sitze, so kann ich es noch ertragen, aber aufstehn kann
ich nicht, ich habe es ja schon versucht, wie Sie weg waren."
"Dann hole ich also einen Wagen, und Sie fahren ins
Krankenhaus", sagte Josie und schüttelte ein wenig Robinsons
Beine, der jeden Augenblick in völlige Teilnahmslosigkeit zu
verfallen drohte. Aber kaum hatte Robinson das Wort Krankenhaus
gehört, das ihm schreckliche Vorstellungen zu erwecken schien, als
er laut zu weinen anfing und die Hände um Gnade bittend nach Josie
ausstreckte. "Still", sagte Josie, schlug ihm mit einem
Klaps die Hände nieder, lief zu dem Liftjungen, den er in der Nacht
vertreten hatte, bat ihn für ein kleines Weilchen um die gleiche
Gefälligkeit, eilte zu Robinson zurück, zog den noch immer
Schluchzenden mit aller Kraft in die Höhe und flüsterte ihm zu:
"Robinson, wenn Sie wollen, dass ich mich ihrer annehme, dann
strengen Sie sich aber an, jetzt eine ganz kleine Strecke Wegs
aufrecht zu gehen. Ich führe Sie nämlich in mein Bett, in dem Sie
solange bleiben können, bis Ihnen gut ist. Sie werden staunen, wie
bald Sie sich erholen werden. Aber jetzt benehmen Sie sich nur
vernünftig, denn auf den Gängen sind überall Leute und auch mein
Bett ist in einem allgemeinen Schlafsaal. Wenn man auf Sie auch nur
ein wenig aufmerksam wird, kann ich nichts mehr für Sie tun. Und die
Augen müssen Sie offen halten, ich kann Sie da nicht wie einen
Todkranken herumführen." "Ich will ja alles tun, was Sie
für Recht halten", sagte Robinson, "aber Sie allein werden
mich nicht führen können. Könnten Sie nicht noch Renell holen?"
"Renell ist nicht hier", sagte Josie. "Ach ja",
sagte Robinson, "Renell ist mit Delamarche beisammen. Die beiden
haben mich ja um Sie geschickt. Ich verwechsle schon alles."
Josie benützte diese und andere unverständliche Selbstgespräche
Robinsons, um ihn vorwärts zu schieben und kam mit ihm auch
glücklich bis zu einer Ecke, von der aus ein etwas schwächer
beleuchteter Gang zum Schlafsaal der Liftjungen führte. Gerade jagte
in vollem Lauf ein Liftjunge auf sie zu und an ihnen vorüber. Im
Übrigen hatten sie bis jetzt nur ungefährliche Begegnungen gehabt;
zwischen vier und fünf Uhr war nämlich die stillste Zeit und Josie
hatte wohl gewusst, dass wenn ihm das Wegschaffen Robinsons jetzt
nicht gelänge, in der Morgendämmerung und im beginnenden
Tagesverkehr überhaupt nicht mehr daran zu denken wäre.
Im
Schlafsaal war am andern Ende des Saales gerade eine große Rauferei
oder sonstige Veranstaltung im Gange, man hörte rhythmisches
Händeklatschen, aufgeregtes Füßetrappeln und sportliche Zurufe. In
der bei der Tür gelegenen Saalhälfte sah man in den Betten nur
wenige unbeirrte Schläfer, die meisten lagen auf dem Rücken und
starrten in die Luft, während hier und da einer bekleidet oder
unbekleidet wie er gerade war, aus dem Bett sprang, um nachzusehn,
wie die Dinge am andern Saalende standen. So brachte Josie Robinson,
der sich an das Gehen inzwischen ein wenig gewöhnt hatte, ziemlich
unbeachtet in Renells Bett, da es der Tür sehr nahe lag und
glücklicherweise nicht besetzt war, während in seinem eigenen Bett,
wie er aus der Ferne sah, ein fremder Junge, den er gar nicht kannte,
ruhig schlief. Kaum fühlte Robinson das Bett unter sich, als er
sofort — ein Bein baumelte noch aus dem Bett heraus — einschlief.
Josie zog ihm die Decke weit über das Gesicht und glaubte sich für
die nächste Zeit wenigstens keine Sorgen machen zu müssen, da
Robinson gewiss nicht vor sechs Uhr früh erwachen würde, und bis
dahin würde er wieder hier sein und dann schon vielleicht mit Renell
ein Mittel finden, um Robinson weg zu bringen. Eine Inspektion des
Schlafsaales durch irgendwelche höheren Organe gab es nur in
außerordentlichen Fällen, die Abschaffung der früher üblichen
allgemeinen Inspektion hatten die Liftjungen schon vor Jahren
durchgesetzt, es war also auch von dieser Seite nichts zu fürchten.
Als
Josie wieder bei seinem Aufzug angelangt war, sah er, dass sowohl
sein Aufzug, als auch jener seines Nachbarn gerade in die Höhe
fuhren. Unruhig wartete er darauf, wie sich das aufklären würde.
Sein Aufzug kam früher herunter und es entstieg ihm jener Junge, der
vor einem Weilchen durch den Gang gelaufen war. "Ja wo bist du
denn gewesen, Rossmann?" fragte dieser. "Warum bist du
weggegangen? Warum hast du es nicht gemeldet?" "Aber ich
habe ihm doch gesagt, dass er mich ein Weilchen vertreten soll",
antwortete Josie und zeigte auf den Jungen vom Nachbarlift, der
gerade herankam. "Ich habe ihn doch auch zwei Stunden während
des größten Verkehres vertreten." "Das ist alles sehr
gut", sagte der Angesprochene, "aber das genügt doch
nicht. Weißt du denn nicht, dass man auch die kürzeste Abwesenheit
während des Dienstes im Büro des Oberkellners melden muss. Dazu
hast du ja das Telefon da. Ich hätte dich schon gerne vertreten,
aber du weißt ja, dass das nicht so leicht ist. Gerade waren vor
beiden Lifts neue Gäste vom Vier-Uhr-dreißig-Expresszug. Ich konnte
doch nicht zuerst zu deinem Lift laufen und meine Gäste warten
lassen, so bin ich also zuerst mit meinem Lift hinauf gefahren."
"Nun?" fragte Josie gespannt, da beide Jungen schwiegen.
"Nun", sagte der Junge vom Nachbarlift, "da geht
gerade der Oberkellner vorüber, sieht die Leute vor deinem Lift ohne
Bedienung, bekommt Galle, fragt mich, der ich gleich her gerannt bin,
wo du steckst, ich habe keine Ahnung davon, denn du hast mir ja gar
nicht gesagt, wohin du gehst und so telefoniert er gleich in den
Schlafsaal, dass sofort ein anderer Junge herkommen soll." "Ich
habe dich ja noch im Gang getroffen", sagte Josies Ersatzmann.
Josie nickte. "Natürlich", beteuerte der andere Junge,
"habe ich gleich gesagt, dass du mich um deine Vertretung
gebeten hast, aber hört denn der auf solche Entschuldigungen. Du
kennst ihn wahrscheinlich noch nicht. Und wir sollen dir ausrichten,
dass du sofort ins Büro kommen sollst. Also halte dich lieber nicht
auf und lauf hin. Vielleicht verzeiht er es dir noch, du warst ja
wirklich nur zwei Minuten weg. Berufe dich nur ruhig auf mich, dass
du mich um Vertretung gebeten hast. Davon dass du mich vertreten
hast, rede lieber nicht, lass dir raten, mir kann ja nichts geschehn,
ich hatte Erlaubnis, aber es ist nicht gut, von einer solchen Sache
zu reden und sie noch in diese Angelegenheit zu mischen, mit der sie
nichts zu tun hat." "Es ist das erste Mal gewesen, dass ich
meinen Posten verlassen habe", sagte Josie. "Das ist immer
so, nur glaubt man es nicht", sagte der Junge und lief zu seinem
Lift, da sich Leute näherten. Josies Vertreter, ein etwa
vierzehnjähriger Junge, der offenbar mit Josie Mitleid hatte, sagte:
"Es sind schon viele Fälle vorgekommen, in denen man solche
Sachen verziehen hat. Gewöhnlich wird man zu andern Arbeiten
versetzt. Entlassen wurde, so viel ich weiß, wegen einer solchen
Sache nur einer. Du musst dir nur eine gute Entschuldigung ausdenken.
Auf keinen Fall sag, dass dir plötzlich schlecht geworden ist, da
lacht er dich aus. Da ist schon besser, du sagst, ein Gast hat dir
irgendeine eilige Bestellung an einen andern Gast aufgegeben und du
weißt nicht mehr, wer der erste Gast war, und den zweiten hast du
nicht finden können." "Na", sagte Josie, "es
wird nicht so schlimm werden", nach allem, was er gehört hatte,
glaubte er an keinen guten Ausgang mehr. Und wenn selbst dieses
Dienstversäumnis verziehen werden sollte, so lag doch drin im
Schlafsaal noch Robinson als seine lebendige Schuld und es war bei
dem galligen Charakter des Oberkellners nur zu wahrscheinlich, dass
man sich mit keiner oberflächlichen Untersuchung begnügen und
schließlich doch Robinson noch aufstöbern würde. Es bestand wohl
kein ausdrückliches Verbot, nach dem fremde Leute in den Schlafsaal
nicht mitgenommen werden durften, aber dies bestand nur deshalb
nicht, weil eben unausdenkbare Dinge nicht verboten werden.
Als
Josie in das Büro des Oberkellners eintrat, saß dieser gerade bei
seinem Morgenkaffee, machte einmal einen Schluck und sah dann wieder
in ein Verzeichnis, das ihm offenbar der gleichfalls anwesende
oberste Hotelportier zur Begutachtung überbracht hatte. Es war dies
ein großer Mann, den seine üppige, reich geschmückte Uniform —
noch auf den Achseln und die Arme hinunter schlängelten sich goldene
Ketten und Bänder — noch breitschultriger machte, als er von Natur
aus war. Ein glänzender, schwarzer Schnurrbart, weit in Spitzen
ausgezogen, so wie ihn Ungarn tragen, rührte sich auch bei der
schnellsten Kopfwendung nicht. Im Übrigen konnte sich der Mann
infolge seiner Kleiderlast überhaupt nur schwer bewegen und stellte
sich nicht anders, als mit seitwärts eingestemmten Beinen auf, um
sein Gewicht richtig zu verteilen.
Josie
war frei und eilig eingetreten, wie er es sich hier im Hotel
angewöhnt hatte, denn die Langsamkeit und Vorsicht, die bei
Privatpersonen Höflichkeit bedeutet, hält man bei Liftjungen für
Faulheit. Außerdem musste man ihm auch nicht gleich beim Eintreten
sein Schuldbewusstsein ansehn. Der Oberkellner hatte zwar flüchtig
auf die sich öffnende Türe hin geblickt, war dann aber sofort zu
seinem Kaffee und zu seiner Lektüre zurückgekehrt, ohne sich weiter
um Josie zu kümmern. Der Portier aber fühlte sich vielleicht durch
Josies Anwesenheit gestört, vielleicht hatte er irgendeine geheime
Nachricht oder Bitte vorzutragen, jedenfalls sah er alle Augenblicke
bös und mit steif geneigtem Kopf nach Josie hin, um sich dann, wenn
er offenbar seiner Absicht entsprechend mit Josies Blicken
zusammengetroffen war, wieder dem Oberkellner zuzuwenden. Josie aber
glaubte, es würde sich nicht gut ausnehmen, wenn er jetzt, da er nun
schon einmal hier war, das Büro wieder verlassen würde, ohne vom
Oberkellner den Befehl hierzu erhalten zu haben. Dieser aber
studierte weiter das Verzeichnis und aß zwischendurch von einem
Stück Kuchen, von dem er hier und da, ohne im Lesen inne zu halten,
den Zucker abschüttelte. Einmal fiel ein Blatt des Verzeichnisses zu
Boden, der Portier machte nicht einmal einen Versuch es aufzuheben,
er wusste, dass er es nicht zu Stande brächte, es war auch nicht
nötig, denn Josie war schon zur Stelle und reichte das Blatt dem
Oberkellner, der es ihm mit einer Handbewegung abnahm, als sei es von
selbst vom Boden aufgeflogen. Die ganze kleine Dienstleistung hatte
nichts genützt, denn der Portier hörte auch weiterhin mit seinen
bösen Blicken nicht auf. Trotzdem war Josie gefasster als früher.
Schon dass seine Sache für den Oberkellner so wenig Wichtigkeit zu
haben schien, konnte man für ein gutes Zeichen halten. Es war
schließlich auch nur begreiflich. Natürlich bedeutet ein Liftjunge
gar nichts und darf sich deshalb nichts erlauben, aber eben deshalb,
weil er nichts bedeutet, kann er auch nichts Außerordentliches
anstellen. Schließlich war der Oberkellner in seiner Jugend selbst
Liftjunge gewesen — was noch der Stolz dieser Generation von
Liftjungen war — er war es gewesen, der die Liftjungen zum ersten
mal organisiert hatte und gewiss hat er auch einmal ohne Erlaubnis
seinen Posten verlassen, wenn ihn auch jetzt allerdings niemand
zwingen konnte, sich daran zu erinnern und wenn man auch nicht außer
Acht lassen durfte, dass er gerade als gewesener Liftjunge darin
seine Pflicht sah, diesen Stand durch zeitweilig unnachsichtliche
Strenge in Ordnung zu halten. Nun setzte aber Josie außerdem seine
Hoffnung auf das Vorrücken der Zeit. Nach der Bürouhr war schon
Viertel sechs vorüber, jeden Augenblick konnte Renell zurückkehren,
vielleicht war er sogar schon da, denn es musste ihm doch aufgefallen
sein, dass Robinson nicht zurückgekommen war, übrigens konnten sich
Delamarche und Renell gar nicht weit vom Hotel Occidental aufgehalten
haben, wie Josie jetzt einfiel, denn sonst hätte doch Robinson in
seinem elenden Zustand den Weg hierher nicht gefunden. Wenn nun
Renell Robinson in seinem Bett antraf, was doch geschehen musste,
dann war alles gut. Denn praktisch, wie Renell war, besonders wenn es
sich um seine Interessen handelte, würde er schon Robinson irgendwie
gleich aus dem Hotel entfernen, was ja umso leichter geschehen
konnte, da Robinson sich inzwischen ein wenig gestärkt hatte und
überdies wahrscheinlich Delamarche vor dem Hotel wartete, um ihn in
Empfang zu nehmen. Wenn aber Robinson einmal entfernt war, dann
konnte Josie dem Oberkellner viel ruhiger entgegentreten und für
diesmal vielleicht noch mit einer, wenn auch schweren Rüge
davonkommen. Dann würde er sich mit Therese beraten, ob er der
Oberköchin die Wahrheit sagen dürfe — er sah für seinen Teil
kein Hindernis — und wenn das möglich war, würde die Sache ohne
besonderen Schaden aus der Welt geschafft sein.
Gerade
hatte sich Josie durch solche Überlegungen ein wenig beruhigt und
machte sich daran, das in dieser Nacht eingenommene Trinkgeld
unauffällig zu überzählen, denn es schien ihm dem Gefühl nach
besonders reichlich gewesen zu sein, als der Oberkellner das
Verzeichnis mit den Worten: "Warten Sie noch bitte einen
Augenblick, Feodor" auf den Tisch legte, elastisch aufsprang und
Josie so laut anschrie, dass dieser erschrocken vorerst nur in das
große schwarze Mundloch starrte.
"Du
hast deinen Posten ohne Erlaubnis verlassen. Weißt du, was das
bedeutet? Das bedeutet Entlassung. Ich will keine Entschuldigungen
hören, deine erlogenen Ausreden kannst du für dich behalten, mir
genügt vollständig die Tatsache, dass du nicht da warst. Wenn ich
das einmal dulde und verzeihe, werden nächstens alle vierzig
Liftjungen während des Dienstes davonlaufen und ich kann meine
fünftausend Gäste allein die Treppen hinauf tragen."
Josie
schwieg. Der Portier war nähergekommen und zog das Röckchen Josies,
das einige Falten warf, ein wenig tiefer, zweifellos um den
Oberkellner auf diese kleine Unordentlichkeit im Anzug Josies
besonders aufmerksam zu machen.
"Ist
dir vielleicht plötzlich schlecht geworden?" fragte der
Oberkellner listig. Josie sah ihn prüfend an und antwortete: "Nein."
"Also nicht einmal schlecht ist dir geworden?" schrie der
Oberkellner desto stärker. "Also dann musst du ja irgendeine
großartige Lüge erfunden haben. Heraus damit. Was für eine
Entschuldigung hast du?" "Ich habe nicht gewusst, dass man
telefonisch um Erlaubnis bitten muss", sagte Josie. "Das
ist allerdings köstlich", sagte der Oberkellner, fasste Josie
beim Rockkragen und brachte ihn fast in Schwebe vor eine
Dienstordnung der Lifts, die auf der Wand aufgenagelt war. Auch der
Portier ging hinter ihnen zur Wand hin. "Da! Lies!" sagte
der Oberkellner und zeigte auf einen Paragrafen. Josie glaubte, er
solle es für sich lesen. "Laut!" kommandierte aber der
Oberkellner. Statt laut zu lesen, sagte Josie in der Hoffnung damit
den Oberkellner besser zu beruhigen: "Ich kenne den Paragrafen,
ich habe ja die Dienstordnung auch bekommen und genau gelesen. Aber
gerade eine solche Bestimmung, die man niemals braucht, vergisst man.
Ich diene schon zwei Monate und habe niemals meinen Posten
verlassen." "Dafür wirst du ihn jetzt verlassen",
sagte der Oberkellner, ging zum Tisch hin, nahm das Verzeichnis
wieder zur Hand, als wolle er darin weiter lesen, schlug damit aber
auf den Tisch, als sei es ein nutzloser Fetzen, und ging, starke Röte
auf Stirn und Wangen, kreuz und quer im Zimmer herum. "Wegen
eines solchen Bengels hat man das nötig. Solche Aufregungen beim
Nachtdienst!" stieß er einige Mal hervor. "Wissen Sie, wer
gerade hinauffahren wollte, als dieser Kerl hier vom Lift weggelaufen
ist?" wandte er sich zum Portier. Und er nannte einen Namen, bei
dem es dem Portier, der gewiss alle Gäste kannte und bewerten
konnte, so schauderte, dass er schnell auf Josie hinsah, als sei nur
dessen Existenz eine Bestätigung dessen, dass der Träger jenes
Namens eine Zeit lang bei einem Lift, dessen Junge weggelaufen war,
nutzlos hatte warten müssen. "Das ist schrecklich!" sagte
der Portier und schüttelte langsam, in grenzenloser Beunruhigung,
den Kopf gegen Josie hin, welcher ihn traurig ansah und dachte, dass
er nun auch für die Begriffsstutzigkeit dieses Mannes werde büßen
müssen. "Ich kenne dich übrigens auch schon", sagte der
Portier und streckte seinen dicken, großen, steif gespannten
Zeigefinger aus. "Du bist der einzige Junge, welcher mich
grundsätzlich nicht grüßt. Was bildest du dir eigentlich ein!
Jeder, der an der Portiersloge vorübergeht, muss mich grüßen. Mit
den übrigen Portiers kannst du es halten, wie du willst, ich aber
verlange gegrüßt zu werden. Ich tue zwar manchmal so, als ob ich
nicht aufpasste, aber du kannst ganz ruhig sein, ich weiß sehr
genau, wer mich grüßt oder nicht, du Lümmel." Und er wandte
sich von Josie ab und schritt hoch aufgerichtet auf den Oberkellner
zu, der aber, statt sich zu des Portiers Sache zu äußern, sein
Frühstück beendete und eine Morgenzeitung überflog, die ein Diener
eben ins Zimmer herein gereicht hatte.
"Herr
Oberportier", sagte Josie, der während der Unachtsamkeit des
Oberkellners wenigstens die Sache mit dem Portier ins Reine bringen
wollte, denn er begriff, dass ihm vielleicht der Vorwurf des Portiers
nicht schaden konnte, wohl aber dessen Feindschaft, "ich grüße
Sie ganz gewiss. Ich bin doch noch nicht lange in Amerika und stamme
aus Europa, wo man bekanntlich viel mehr grüßt, als nötig ist. Das
habe ich mir natürlich noch nicht ganz abgewöhnen können und noch
vor zwei Monaten hat man mir in New York, wo ich zufällig in höheren
Kreisen verkehrte, bei jeder Gelegenheit zugeredet, mit meiner
übertriebenen Höflichkeit aufzuhören. Und da sollte ich gerade Sie
nicht gegrüßt haben. Ich habe Sie jeden Tag einige Mal gegrüßt.
Aber natürlich nicht jedes Mal, wenn ich Sie gesehen habe, da ich
doch täglich hundertmal an Ihnen vorüber komme." "Du hast
mich jedes Mal zu grüßen, jedes Mal, ohne Ausnahme, du hast die
ganze Zeit, während du mit mir sprichst, die Kappe in der Hand zu
halten, du hast mich immer mit Oberportier anzureden und nicht mit
Sie. Und alles das jedes Mal und jedes Mal." "Jedes Mal?"
wiederholte Josie leise und fragend, er erinnerte sich jetzt, wie er
vom Portier während der ganzen Zeit seines hiesigen Aufenthaltes
immer streng und vorwurfsvoll angeschaut worden war, schon von jenem
ersten Morgen, an dem er, seiner dienenden Stellung noch nicht recht
angepasst, etwas zu kühn, diesen Portier ohne weiters umständlich
und dringlich ausgefragt hatte, ob nicht zwei Männer vielleicht nach
ihm gefragt und etwa eine Fotografie für ihn zurückgelassen hätten.
"Jetzt siehst du, wohin ein solches Benehmen führt", sagte
der Portier, der wieder ganz nahe zu Josie zurückgekehrt war, und
zeigte auf den noch lesenden Oberkellner, als sei dieser der
Vertreter seiner Rache. "In deiner nächsten Stellung wirst du
es schon verstehn, den Portier zu grüßen und wenn es auch nur
vielleicht in einer elenden Spelunke sein wird."
Josie
sah ein, dass er eigentlich seinen Posten schon verloren hatte, denn
der Oberkellner hatte es bereits ausgesprochen, der Oberportier als
fertige Tatsache wiederholt und wegen eines Liftjungen dürfte wohl
die Bestätigung der Entlassung seitens der Hoteldirektion nicht
nötig sein. Es war allerdings schneller gegangen, als er gedacht
hatte, denn schließlich hatte er doch zwei Monate gedient, so gut er
konnte, und gewiss besser, als mancher andere Junge. Aber auf solche
Dinge wird eben im entscheidenden Augenblick offenbar in keinem
Weltteil, weder in Europa noch in Amerika, Rücksicht genommen,
sondern es wird so entschieden, wie einem in der ersten Wut das
Urteil aus dem Munde fährt. Vielleicht wäre es jetzt am besten
gewesen, wenn er sich gleich verabschiedet hätte und weggegangen
wäre, die Oberköchin und Therese schliefen vielleicht noch, er
hätte sich, um ihnen die Enttäuschung und Trauer über sein
Benehmen wenigstens beim persönlichen Abschied zu ersparen,
brieflich verabschieden können, hätte rasch seinen Koffer packen
und in der Stille fort gehn können. Blieb er aber auch nur einen Tag
noch — und er hätte allerdings ein wenig Schlaf gebraucht — so
erwartete ihn nichts anderes, als Aufbauschung seiner Sache zum
Skandal, Vorwürfe von allen Seiten, der unerträgliche Anblick der
Tränen Thereses und vielleicht gar der Oberköchin und
möglicherweise zu guter Letzt auch noch eine Bestrafung.
Andererseits aber beirrte es ihn, dass er hier zwei Feinden
gegenüberstand und dass an jedem Wort, das er aussprechen würde,
wenn nicht der eine, so der andere etwas aussetzen und zum Schlechten
deuten würde. Deshalb schwieg er und genoss vorläufig die Ruhe, die
im Zimmer herrschte, denn der Oberkellner las noch immer die Zeitung
und der Oberportier ordnete sein über den Tisch hin verstreutes
Verzeichnis nach den Seitenzahlen, was ihm bei seiner offenbaren
Kurzsichtigkeit große Schwierigkeiten machte.
Endlich
legte der Oberkellner die Zeitung gähnend hin, vergewisserte sich
durch einen Blick auf Josie, dass dieser noch anwesend sei und drehte
die Glocke des Tischtelefons an. Er rief mehrere Male Hallo, aber
niemand meldete sich. "Es meldet sich niemand", sagte er
zum Oberportier. Dieser, der das Telefonieren, wie es Josie schien,
mit besonderem Interesse beobachtete, sagte: "Es ist ja schon
dreiviertel sechs. Sie ist gewiss schon wach. Läuten Sie nur
stärker." In diesem Augenblick kam, ohne weitere Aufforderung,
das telefonische Gegenzeichen. "Hier Oberkellner Isbary",
sagte der Oberkellner. "Guten Morgen, Frau Oberköchin. Ich habe
Sie doch nicht am Ende geweckt. Das tut mir sehr leid. Ja, ja,
dreiviertel sechs ist schon. Aber das tut mir aufrichtig leid, dass
ich Sie erschreckt habe. Sie sollten während des Schlafens das
Telefon abstellen. Nein, nein, tatsächlich, es gibt für mich keine
Entschuldigung, besonders bei der Geringfügigkeit der Sache, wegen
deren ich Sie sprechen will. Aber natürlich habe ich Zeit, bitte
sehr, ich bleibe beim Telefon, wenn es Ihnen recht ist." "Sie
muss im Nachthemd zum Telefon gelaufen sein", sagte der
Oberkellner lächelnd zum Oberportier, der die ganze Zeit über mit
gespanntem Gesichtsausdruck zum Telefonkasten sich gebückt gehalten
hatte. "Ich habe sie wirklich geweckt, sie wird nämlich sonst
von dem kleinen Mädel, das bei ihr auf der Schreibmaschine schreibt,
geweckt und die muss es heute ausnahmsweise versäumt haben. Es tut
mir leid, dass ich sie aufgeschreckt habe, sie ist sowieso nervös."
"Warum spricht sie nicht weiter?" "Sie ist nachschauen
gegangen, was mit dem Mädel los ist", antwortete der
Oberkellner schon mit der Muschel am Ohr, denn es läutete wieder.
"Sie wird sich schon finden", redete er weiter ins Telefon
hinein. "Sie dürfen sich nicht von allem so erschrecken lassen,
Sie brauchen wirklich eine gründliche Erholung. Ja also, meine
kleine Anfrage. Es ist da ein Liftjunge, namens" —er drehte
sich fragend nach Josie um, der, da er genau aufpasste, gleich mit
seinem Namen aushelfen konnte — "also namens Josie Rossmann,
wenn ich mich recht erinnere, so haben Sie sich für ihn ein wenig
interessiert; leider hat er ihre Freundlichkeit schlecht belohnt, er
hat ohne Erlaubnis seinen Posten verlassen, hat mir dadurch schwere,
jetzt noch gar nicht übersehbare, Unannehmlichkeiten verursacht und
ich habe ihn daher soeben entlassen. Ich hoffe, Sie nehmen die Sache
nicht tragisch. Wie meinen Sie? Entlassen, ja, entlassen. Aber ich
sagte Ihnen doch, dass er seinen Posten verlassen hat. Nein, da kann
ich Ihnen wirklich nicht nachgeben, liebe Frau Oberköchin. Es
handelt sich um meine Autorität, da steht viel auf dem Spiel, so ein
Junge verdirbt mir die ganze Bande. Gerade bei den Liftjungen muss
man teuflisch aufpassen. Nein, nein, in diesem Falle kann ich Ihnen
den Gefallen nicht tun, so sehr ich es mir immer angelegen sein
lasse, Ihnen gefällig zu sein. Und wenn ich ihn schon trotz allem
hier ließe, zu keinem andern Zweck, als um meine Galle in Tätigkeit
zu erhalten, ihretwegen, ja, ihretwegen Frau Oberköchin, kann er
nicht hier bleiben. Sie nehmen einen Anteil an ihm, den er durchaus
nicht verdient und da ich nicht nur ihn kenne, sondern auch Sie, weiß
ich, dass das zu den schwersten Enttäuschungen für Sie führen
müsste, die ich Ihnen um jeden Preis ersparen will. Ich sage das
ganz offen, trotzdem der verstockte Junge paar Schritte vor mir
steht. Er wird entlassen, nein, nein, Frau Oberköchin, er wird
vollständig entlassen, nein, nein, er wird zu keiner andern Arbeit
versetzt, er ist vollständig unbrauchbar. Übrigens laufen ja auch
sonst Beschwerden gegen ihn ein. Der Oberportier z.B., ja also, was
denn, Feodor, ja, beklagt sich über die Unhöflichkeit und Frechheit
dieses Jungen. Wie, das soll nicht genügen? Ja, liebe Frau
Oberköchin, Sie verleugnen wegen dieses Jungen ihren Charakter.
Nein, so dürfen Sie mir nicht zusetzen."
In
diesem Augenblick beugte sich der Portier zum Ohr des Oberkellners
und flüsterte etwas. Der Oberkellner sah ihn zuerst erstaunt an und
redete dann so rasch in das Telefon, dass Josie ihn anfangs nicht
ganz genau verstand und auf den Fußspitzen zwei Schritte näher
trat.
"Liebe
Frau Oberköchin", hieß es, "aufrichtig gesagt, ich hätte
nicht geglaubt, dass Sie eine so schlechte Menschenkennerin sind.
Eben erfahre ich etwas über ihren Engelsjungen, was ihre Meinung
über ihn gründlich ändern wird, und es tut mir fast leid, dass
gerade ich es Ihnen sagen muss. Dieser feine Junge also, den Sie ein
Muster von Anstand nennen, lässt keine dienstfreie Nacht vergehn,
ohne in die Stadt zu laufen, aus der er erst am Morgen wiederkommt.
Ja, ja, Frau Oberköchin, das ist durch Zeugen bewiesen, durch
einwandfreie Zeugen, ja. Können Sie mir nun vielleicht sagen, wo er
das Geld zu diesen Lustbarkeiten her nimmt? Wie er die Aufmerksamkeit
für seinen Dienst behalten soll? Und wollen Sie vielleicht auch
noch, dass ich Ihnen beschreiben soll, was er in der Stadt treibt?
Diesen Jungen loszuwerden, will ich mich aber ganz besonders beeilen.
Und Sie, bitte, nehmen das als Mahnung, wie vorsichtig man gegen
hergelaufene Burschen sein soll."
"Aber
Herr Oberkellner", rief nun Josie, förmlich erleichtert durch
den großen Irrtum, der hier unterlaufen schien, und der vielleicht
am ehesten dazu führen konnte, dass sich alles noch unerwartet
besserte, "da liegt bestimmt eine Verwechslung vor. Ich glaube,
der Herr Oberportier hat Ihnen gesagt, dass ich jede Nacht weggehe.
Das ist aber durchaus nicht richtig, ich bin vielmehr jede Nacht im
Schlafsaal, das können alle Jungen bestätigen. Wenn ich nicht
schlafe, lerne ich kaufmännische Korrespondenz, aber aus dem
Schlafsaal rühre ich mich keine Nacht. Das ist ja leicht zu
beweisen. Der Herr Oberportier verwechselt mich offenbar mit jemand
anderem, und jetzt verstehe ich auch, warum er glaubt, dass ich ihn
nicht grüße."
"Wirst
du sofort schweigen", schrie der Oberportier und schüttelte die
Faust, wo andere einen Finger bewegt hätten, "ich soll dich mit
jemand andern verwechseln. Ja, dann kann ich nicht mehr Oberportier
sein, wenn ich die Leute verwechsle. Hören Sie nur, Herr Isbary,
dann kann ich nicht mehr Oberportier sein, nun ja, wenn ich die Leute
verwechsle. In meinen dreißig Dienstjahren ist mir allerdings noch
keine Verwechslung passiert, wie mir Hunderte von Herren
Oberkellnern, die wir seit jener Zeit hatten, bestätigen müssen,
aber bei dir, miserabler Junge, soll ich mit den Verwechslungen
angefangen haben. Bei dir, mit deiner auffallenden, glatten Fratze.
Was gibt es da zu verwechseln, du könntest jede Nacht hinter meinem
Rücken in die Stadt gelaufen sein, und ich bestätige bloß nach
deinem Gesicht, dass du ein ausgegorener Lump bist." "Lass,
Feodor!" sagte der Oberkellner, dessen telefonisches Gespräch
mit der Oberköchin plötzlich abgebrochen worden zu sein schien.
"Die Sache ist ja ganz einfach. Auf seine Unterhaltungen in der
Nacht kommt es ja in erster Reihe gar nicht an. Er möchte ja
vielleicht vor seinem Abschied noch irgendeine große Untersuchung
über seine Nachtbeschäftigung verursachen wollen. Ich kann mir
schon vorstellen, dass ihm das gefallen würde. Es würden womöglich
alle vierzig Liftjungen herauf zitiert und als Zeugen einvernommen,
die würden ihn natürlich auch alle verwechselt haben, es müsste
also allmählich das ganze Personal zur Zeugenschaft heran, der
Hotelbetrieb würde natürlich auf ein Weilchen eingestellt und wenn
er dann schließlich doch herausgeworfen würde, so hätte er doch
wenigstens seinen Spaß gehabt. Also das machen wir lieber nicht. Die
Oberköchin, diese gute Frau, hat er schon zum Narren gehalten und
damit soll es genug sein. Ich will nichts weiter hören, du bist
wegen Dienstversäumnisses auf der Stelle aus dem Dienst entlassen.
Da gebe ich dir eine Anweisung an die Kasse, dass dir dein Lohn bis
zum heutigen Tag ausgezahlt werde. Das ist übrigens bei deinem
Verhalten, unter uns gesagt, einfach ein Geschenk, das ich dir nur
aus Rücksicht auf die Frau Oberköchin mache."
Ein
telefonischer Anruf hielt den Oberkellner ab, die Anweisung sofort zu
unterschreiben. "Die Liftjungen geben mir aber heute zu
schaffen!" rief er schon nach Anhören der ersten Worte. "Das
ist ja unerhört!" rief er nach einem Weilchen. Und vom Telefon
weg wandte er sich zum Hotelportier und sagte: "Bitte, Feodor,
halt mal diesen Burschen ein wenig, wir werden noch mit ihm zu reden
haben." Und ins Telefon gab er den Befehl: "Komm sofort
herauf!" Nun konnte sich der Oberportier wenigstens austoben,
was ihm beim Reden nicht hatte gelingen wollen. Er hielt Josie oben
am Arm fest, aber nicht etwa mit ruhigem Griff, der schließlich
auszuhalten gewesen wäre, sondern er lockerte hier und da den Griff
und machte ihn dann mit Steigerung fester und fester, was bei seinen
großen Körperkräften gar nicht aufzuhören schien und ein Dunkel
vor Josies Augen verursachte. Aber er hielt Josie nicht nur, sondern,
als hätte er auch den Befehl bekommen, ihn gleichzeitig zu strecken,
zog er ihn auch hier und da in die Höhe und schüttelte ihn, wobei
er immer wieder halb fragend zum Oberkellner sagte: "Ob ich ihn
jetzt nur nicht verwechsle, ob ich ihn jetzt nur nicht verwechsle."
Es
war eine Erlösung für Josie, als der oberste der Liftjungen, ein
gewisser Bess, ein ewig fauchender, dicker Junge eintrat und die
Aufmerksamkeit des Oberportiers ein wenig auf sich lenkte. Josie war
so ermattet, dass er kaum grüßte, als er zu seinem Staunen hinter
dem Jungen Therese leichenblass, unordentlich angezogen, mit lose
aufgesteckten Haaren herein schlüpfen sah. Im Augenblick war sie bei
ihm und flüsterte: "Weiß es schon die Oberköchin?" "Der
Oberkellner hat es ihr telefoniert", antwortete Josie. "Dann
ist schon gut, dann ist schon gut", sagte sie rasch mit
lebhaften Augen. "Nein", sagte Josie, "du weißt ja
nicht, was sie gegen mich haben. Ich muss weg, die Oberköchin ist
davon auch schon überzeugt. Bitte, bleib nicht hier, geh hinauf, ich
werde mich dann von dir verabschieden kommen." "Aber
Rossmann, was fällt dir denn ein. Du wirst schön bei uns bleiben,
so lange es dir gefällt. Der Oberkellner macht ja alles, was die
Oberköchin will, er liebt sie ja, ich habe es letzthin zufällig
erfahren. Da sei nur ruhig." "Bitte, Therese, geh jetzt
weg. Ich kann mich nicht so gut verteidigen, wenn du hier bist. Und
ich muss mich genau verteidigen, weil Lügen gegen mich vorgebracht
werden. Je besser ich aber aufpassen und mich verteidigen kann, desto
mehr Hoffnung ist, dass ich bleibe. Also, Therese—". Leider
konnte er in einem plötzlichen Schmerz nicht unterlassen leise
hinzuzufügen: "Wenn mich nur dieser Oberportier loslassen
würde! Ich wusste gar nicht, dass er mein Feind ist. Aber wie er
mich immerfort drückt und zieht." "Warum sage ich das
nur!" dachte er gleichzeitig, "kein Frauenzimmer kann das
ruhig anhören", und tatsächlich wendete sich Therese, ohne
dass er sie noch mit der freien Hand hätte davon abhalten können,
an den Oberportier: "Herr Oberportier, bitte lassen Sie doch
sofort den Rossmann frei. Sie machen ihm ja Schmerzen. Die Frau
Oberköchin wird gleich persönlich kommen und dann wird man schon
sehen, dass ihm in allem Unrecht geschieht. Lassen Sie ihn los, was
kann es Ihnen denn für ein Vergnügen machen, ihn zu quälen."
Und sie griff sogar nach des Oberportiers Hand. "Befehl, kleines
Fräulein, Befehl", sagte der Oberportier und zog mit der freien
Hand Therese freundlich an sich, während er mit der andern Josie nun
sogar angestrengter drückte, als wolle er ihm nicht nur Schmerzen
machen, sondern als habe er mit diesem, in seinem Besitz befindlichen
Arm ein besonderes Ziel, das noch lange nicht erreicht sei.
Therese
brauchte einige Zeit, um sich der Umarmung des Oberportiers zu
entwinden und wollte sich gerade beim Oberkellner, der noch immer von
dem sehr umständlichen Bess sich erzählen ließ, für Josie
einsetzen, als die Oberköchin mit raschem Schritte eintrat. "Gott
sei Dank", rief Therese und man hörte einen Augenblick im
Zimmer nichts als diese lauten Worte. Gleich sprang der Oberkellner
auf und schob Bess zur Seite: "Sie kommen also selbst, Frau
Oberköchin. Wegen dieser Kleinigkeit? Nach unserem Telefongespräch
konnte ich es ja ahnen, aber geglaubt habe ich es eigentlich doch
nicht. Und dabei wird die Sache ihres Schützlings immerfort ärger.
Ich fürchte, ich werde ihn tatsächlich nicht entlassen, aber dafür
einsperren lassen müssen. Hören Sie selbst!" Und er winkte
Bess herbei. "Ich möchte zuerst paar Worte mit dem Rossmann
reden", sagte die Oberköchin und setzte sich auf einen Sessel,
da sie der Oberkellner hierzu nötigte. "Josie, bitte komm
näher", sagte sie dann. Josie folgte oder wurde vielmehr vom
Oberportier näher geschleppt. "Lassen Sie ihn doch los",
sagte die Oberköchin ärgerlich, "er ist doch kein Raubmörder."
Der Oberportier ließ ihn tatsächlich los, drückte Josie aber
vorher noch einmal so stark, dass ihm selbst vor Anstrengung die
Tränen in die Augen traten.
"Josie",
sagte die Oberköchin, legte die Hände ruhig in den Schoß und sah
Josie mit geneigtem Kopfe an — es war gar nicht wie ein Verhör —,
"vor allem will ich dir sagen, dass ich noch vollständiges
Vertrauen zu dir habe. Auch der Herr Oberkellner ist ein gerechter
Mann, dafür bürge ich. Wir beide wollen dich im Grunde gerne hier
behalten." — Sie sah hierbei flüchtig zum Oberkellner
hinüber, als wolle sie bitten, ihr nicht ins Wort zu fallen. Es
geschah auch nicht: "Vergiss also, was man dir bis jetzt
vielleicht hier gesagt hat. Vor allem, was dir vielleicht der Herr
Oberportier gesagt hat, musst du nicht besonders schwer nehmen. Er
ist zwar ein aufgeregter Mann, was bei seinem Dienst kein Wunder ist,
aber er hat auch Frau und Kinder und weiß, dass man einen Jungen,
der nur auf sich angewiesen ist, nicht unnötig plagen muss, sondern
dass das schon die übrige Welt genügend besorgt."
Es
war ganz still im Zimmer. Der Oberportier sah Erklärungen fordernd
auf den Oberkellner, dieser sah auf die Oberköchin und schüttelte
den Kopf. Der Liftjunge Bess grinste recht sinnlos hinter dem Rücken
des Oberkellners. Therese schluchzte vor Freude und Leid in sich
hinein und hatte alle Mühe, es niemanden hören zu lassen.
Josie
aber blickte, trotzdem das nur als schlechtes Zeichen aufgefasst
werden konnte, nicht auf die Oberköchin, die gewiss nach seinem
Blick verlangte, sondern vor sich auf den Fußboden. In seinem Arm
zuckte der Schmerz nach allen Richtungen, das Hemd klebte an dem
Striemen fest und er hätte eigentlich den Rock ausziehen und die
Sache besehen sollen. Was die Oberköchin sagte, war natürlich sehr
freundlich gemeint, aber unglücklicher Weise schien es ihm, als
müsse es gerade durch das Verhalten der Oberköchin zu Tage treten,
dass er keine Freundlichkeit verdiene, dass er die Wohltaten der
Oberköchin zwei Monate unverdient genossen habe, ja, dass er nichts
anderes verdiene, als unter die Hände des Oberportiers zu kommen.
"Ich sage das", fuhr die Oberköchin fort, "damit du
jetzt unbeirrt antwortest, was du übrigens wahrscheinlich auch sonst
getan hättest, wie ich dich zu kennen glaube."
"Darf
ich bitte inzwischen den Arzt holen, der Mann könnte nämlich
inzwischen verbluten", mischte sich plötzlich der Liftjunge
Bess sehr höflich, aber sehr störend ein.
"Geh",
sagte der Oberkellner zu Bess, der gleich davon lief. Und dann zur
Oberköchin: "Die Sache ist die. Der Oberportier hat den Jungen
da nicht zum Spaß festgehalten. Unten im Schlafsaal der Liftjungen
ist nämlich in einem Bett sorgfältig zugedeckt ein wildfremder,
schwer betrunkener Mann aufgefunden worden. Man hat ihn natürlich
geweckt und wollte ihn wegschaffen. Da hat dieser Mann aber einen
großen Radau zu machen angefangen, immer wieder herum geschrien, der
Schlafsaal gehöre dem Josie Rossmann, dessen Gast er sei, der ihn
hergebracht habe und der jeden bestrafen werde, der ihn anzurühren
wagen würde. Im Übrigen müsse er auch deshalb auf den Josie
Rossmann warten, weil ihm dieser Geld versprochen habe und es nur
holen gegangen sei. Achten Sie bitte darauf, Frau Oberköchin: Geld
versprochen habe und es holen gegangen sei. Du kannst auch Acht
geben, Rossmann", sagte der Oberkellner nebenbei zu Josie, der
sich gerade nach Therese umgedreht hatte, die wie gebannt den
Oberkellner anstarrte, und die immer wieder entweder irgendwelche
Haare aus der Stirn strich oder diese Handbewegung um ihrer selbst
Willen machte. "Aber vielleicht erinnere ich dich an
irgendwelche Verpflichtungen. Der Mann unten hat nämlich weiterhin
gesagt, dass ihr beide nach deiner Rückkunft einen Nachtbesuch bei
irgendeiner Sängerin machen werdet, deren Namen allerdings niemand
verstanden hat, da ihn der Mann immer nur unter Gesang aussprechen
konnte."
Hier
unterbrach sich der Oberkellner, denn die sichtlich bleich gewordene
Oberköchin erhob sich vom Sessel, den sie ein wenig zurück stieß.
"Ich verschone Sie mit dem weitern", sagte der Oberkellner.
"Nein, bitte nein", sagte die Oberköchin und ergriff seine
Hand, "erzählen Sie nur weiter, ich will alles hören, darum
bin ich ja hier." Der Oberportier, der vortrat und sich zum
Zeichen dessen, dass er von Anfang an alles durchschaut hatte, laut
auf die Brust schlug, wurde vom Oberkellner mit den Worten: "Ja,
Sie hatten ganz recht, Feodor!" gleichzeitig beruhigt und
zurückgewiesen.
"Es
ist nicht mehr viel zu erzählen", sagte der Oberkellner. "Wie
die Jungen eben schon sind, haben sie den Mann zuerst ausgelacht,
haben dann mit ihm Streit bekommen und er ist, da dort immer gute
Boxer zur Verfügung stehen, einfach nieder geboxt worden und ich
habe gar nicht zu fragen gewagt, an welchen und an wie viel Stellen
er blutet, denn diese Jungen sind fürchterliche Boxer, und ein
Betrunkener macht es ihnen natürlich leicht."
"So",
sagte die Oberköchin, hielt den Sessel an der Lehne und sah auf den
Platz, den sie eben verlassen hatte. "Also, sprich doch bitte
ein Wort, Rossmann!" sagte sie dann. Therese war von ihrem
bisherigen Platz zur Oberköchin hinüber gelaufen und hatte sich,
was sie Josie sonst niemals hatte tun sehen, in die Oberköchin
eingehängt. Der Oberkellner stand knapp hinter der Oberköchin und
glättete langsam einen kleinen, bescheidenen Spitzenkragen der
Oberköchin, der sich ein wenig umgeschlagen hatte. Der Oberportier
neben Josie sagte: "Also, wirds?" wollte damit aber nur
einen Stoß maskieren, den er unterdessen Josie in den Rücken gab.
"Es
ist wahr", sagte Josie, infolge des Stoßes unsicherer als er
wollte, "dass ich den Mann in den Schlafsaal gebracht habe."
"Mehr
wollen wir nicht wissen", sagte der Portier im Namen aller. Die
Oberköchin wandte sich stumm zum Oberkellner und dann zu Therese.
"Ich
konnte mir nicht anders helfen", sagte Josie weiter. "Der
Mann ist mein Kamerad von früher her, er kam, nachdem wir uns zwei
Monate lang nicht gesehen hatten, hierher, um mir einen Besuch zu
machen, war aber so betrunken, dass er nicht wieder allein fort gehn
konnte."
Der
Oberkellner sagte neben der Oberköchin halblaut vor sich hin: "Er
kam also zu Besuch und war nachher so betrunken, dass er nicht
fortgehen konnte." Die Oberköchin flüsterte über die Schulter
dem Oberkellner etwas zu, der mit einem offenbar nicht zu dieser
Sache gehörigen Lächeln Einwände zu machen schien. Therese —
Josie sah nur zu ihr hin — drückte ihr Gesicht in völliger
Hilflosigkeit an die Oberköchin und wollte nichts mehr sehen. Der
Einzige, der mit Josies Erklärung vollständig zufrieden war, war
der Oberportier, welcher einige Mal wiederholte: "Es ist ja ganz
recht, seinem Saufbruder muss man helfen", und diese Erklärung
jedem der Anwesenden durch Blicke und Handbewegungen einzuprägen
suchte.
"Schuld
also bin ich", sagte Josie und machte eine Pause, als warte er
auf ein freundliches Wort seiner Richter, das ihm Mut zur weitern
Verteidigung geben könnte, aber es kam nicht, "schuld bin ich
nur daran, dass ich den Mann, er heißt Robinson, ist ein Irländer,
in den Schlafsaal gebracht habe. Alles andere, was er gesagt hat, hat
er aus Betrunkenheit gesagt und es ist nicht richtig."
"Du
hast ihm also kein Geld versprochen?" fragte der Oberkellner.
"Ja",
sagte Josie und es tat ihm Leid, dass er daran vergessen hatte, er
hatte sich aus Unüberlegtheit oder Zerstreutheit in allzu bestimmten
Ausdrücken als schuldlos bezeichnet. "Geld habe ich ihm
versprochen, weil er mich darum gebeten hat. Aber ich wollte es nicht
holen, sondern ihm das Trinkgeld geben, das ich heute Nacht verdient
hatte." Und er zog zum Beweise das Geld aus der Tasche und
zeigte auf der flachen Hand die paar kleinen Münzen.
"Du
verrennst dich immer mehr", sagte der Oberkellner. "Wenn
man dir glauben sollte, müsste man immer das, was du früher gesagt
hast, vergessen. Zuerst hast du also den Mann — nicht einmal den
Namen Robinson glaube ich dir, so hat, seitdem es ein Irland gibt,
kein Irländer geheißen — zuerst also hast du ihn nur in den
Schlafsaal gebracht, wofür allein du übrigens schon im Schwung
heraus fliegen könntest — Geld aber hast du ihm zuerst nicht
versprochen, dann wieder, wenn man dich überraschend fragt, hast du
ihm Geld versprochen. Aber wir haben hier kein Antwort- und
Fragespiel, sondern wollen deine Rechtfertigung hören. Zuerst aber
wolltest du das Geld nicht holen, sondern ihm dein heutiges Trinkgeld
geben, dann aber zeigt sich, dass du dieses Geld noch bei dir hast,
also offenbar doch noch anderes Geld holen wolltest, wofür auch dein
langes Ausbleiben spricht. Schließlich wäre es ja nichts
Besonderes, wenn du für ihn aus deinem Koffer hättest Geld holen
wollen, dass du es aber mit aller Kraft leugnest, das ist allerdings
etwas Besonderes. Ebenso wie du auch immerfort verschweigen willst,
dass du den Mann erst hier im Hotel betrunken gemacht hast, woran ja
nicht der geringste Zweifel ist, denn du selbst hast zugegeben, dass
er allein gekommen ist, aber nicht allein weggehen konnte und er
selbst hat ja im Schlafsaal herum geschrien, dass er dein Gast ist.
Fraglich also bleiben jetzt nur noch zwei Dinge, die du, wenn du die
Sache vereinfachen willst, selbst beantworten kannst, die man aber
schließlich auch ohne deine Mithilfe wird feststellen können:
Erstens, wie hast du dir den Zutritt zu den Vorratskammern
verschafft, und zweitens, wieso hast du verschenkbares Geld
angesammelt?"
"Es
ist unmöglich, sich zu verteidigen, wenn nicht guter Wille da ist",
sagte sich Josie und antwortete dem Oberkellner nicht mehr, so sehr
darunter wahrscheinlich Therese litt. Er wusste, dass alles, was er
sagen konnte, hinterher ganz anders aussehen würde, als es gemeint
gewesen war, und dass es nur der Art der Beurteilung überlassen
bliebe, Gutes oder Böses vorzufinden.
"Er
antwortet nicht", sagte die Oberköchin.
"Es
ist das Vernünftigste, was er tun kann", sagte der Oberkellner.
"Er
wird sich schon noch etwas ausdenken", sagte der Oberportier und
strich mit der früher grausamen Hand behutsam seinen Bart.
"Sei
still", sagte die Oberköchin zu Therese, die an ihrer Seite zu
schluchzen begann, "Du siehst, er antwortet nicht, wie kann ich
denn da etwas für ihn tun. Schließlich bin ich es, die vor dem
Herrn Oberkellner Unrecht behält. Sag doch, Therese, habe ich deiner
Meinung nach etwas für ihn zu tun versäumt?" Wie konnte das
Therese wissen und was nützte es, dass sich die Oberköchin durch
diese öffentlich an das kleine Mädchen gerichtete Frage und Bitte
vor den beiden Herren vielleicht viel vergab?
"Frau
Oberköchin", sagte Josie, der sich noch einmal aufraffte, aber
nur, um Therese die Antwort zu ersparen, zu keinem andern Zweck, "ich
glaube nicht, dass ich Ihnen irgendwie Schande gemacht habe, und nach
genauer Untersuchung müsste das auch jeder andere finden."
"Jeder
andere", sagte der Oberportier und zeigte mit dem Finger auf den
Oberkellner, "das ist eine Spitze gegen Sie, Herr Isbary."
"Nun,
Frau Oberköchin", sagte dieser, "es ist halb sieben, hohe
und höchste Zeit. Ich denke, Sie lassen mir am besten das
Schlusswort in dieser schon allzu duldsam behandelten Sache."
Der
kleine Giacomo war hereingekommen, wollte zu Josie treten, ließ
aber, durch die allgemein herrschende Stille erschreckt, davon ab und
wartete.
Die
Oberköchin hatte seit Josies letzten Worten den Blick nicht von ihm
gewendet und es deutete auch nichts darauf hin, dass sie die
Bemerkung des Oberkellners gehört hatte. Ihre Augen sahen voll auf
Josie hin, sie waren groß und blau, aber ein wenig getrübt, durch
das Alter und die viele Mühe. Wie sie so dastand und den Sessel vor
sich schwach schaukelte, hätte man ganz gut erwarten können, sie
werde im nächsten Augenblicke sagen: "Nun, Josie, die Sache
ist, wenn ich es überlege, noch nicht recht klar gestellt und
braucht, wie du es richtig gesagt hast, noch eine genaue
Untersuchung. Und die wollen wir jetzt veranstalten, ob man sonst
damit einverstanden ist oder nicht, denn Gerechtigkeit muss sein."
Statt
dessen aber sagte die Oberköchin, nach einer kleinen Pause, die
niemand zu unterbrechen gewagt hatte — nur die Uhr schlug in
Bestätigung der Worte des Oberkellners halb sieben und mit ihr, wie
jeder wusste, gleichzeitig alle Uhren im ganzen Hotel, es klang im
Ohr und in der Ahnung wie das zweimalige Zucken einer einzigen großen
Ungeduld: "Nein, Josie, nein, nein! Das wollen wir uns nicht
einreden. Gerechte Dinge haben auch ein besonderes Aussehen und das
hat, ich muss es gestehn, deine Sache nicht. Ich darf das sagen und
muss es auch sagen, denn ich bin es, die mit dem besten Vorurteil für
dich hergekommen ist. Du siehst, auch Therese schweigt." Aber
sie schwieg doch nicht, sie weinte.
Die
Oberköchin stockte in einem plötzlich sie überkommenden Entschluss
und sagte: "Josie, komm einmal her", und als er zu ihr
gekommen war — gleich vereinigten sich hinter seinem Rücken der
Oberkellner und der Oberportier zu lebhaftem Gespräch — umfasste
sie ihn mit der linken Hand, ging mit ihm und der willenlos folgenden
Therese in die Tiefe des Zimmers und dort mit beiden einige Male auf
und ab, wobei sie sagte: "Es ist möglich, Josie, und darauf
scheinst du zu vertrauen, sonst würde ich dich überhaupt nicht
verstehn, dass eine Untersuchung dir in einzelnen Kleinigkeiten Recht
geben wird. Warum denn nicht? Du hast vielleicht tatsächlich den
Oberportier gegrüßt. Ich glaube es sogar bestimmt, ich weiß auch,
was ich von dem Oberportier zu halten habe, du siehst, ich rede
selbst jetzt noch offen zu dir. Aber solche kleine Rechtfertigungen
helfen dir gar nichts. Der Oberkellner, dessen Menschenkenntnis ich
im Laufe vieler Jahre zu schätzen gelernt habe und welcher der
verlässlichste Mensch ist, den ich überhaupt kenne, hat deine
Schuld klar ausgesprochen und die scheint mir allerdings
unwiderleglich. Vielleicht hast du bloß unüberlegt gehandelt,
vielleicht aber bist du nicht der, für den ich dich gehalten habe.
Und doch", damit unterbrach sie sich gewissermaßen selbst und
sah nur flüchtig nach den beiden Herren zurück, "kann ich es
mir noch nicht abgewöhnen, dich für einen im Grunde anständigen
Jungen zu halten."
"Frau
Oberköchin! Frau Oberköchin", mahnte der Oberkellner, der
ihren Blick aufgefangen hatte.
"Wir
sind gleich fertig", sagte die Oberköchin und redete nun
schneller auf Josie ein: "Höre, Josie, so wie ich die Sache
übersehe, bin ich noch froh, dass der Oberkellner keine Untersuchung
einleiten will, denn wollte er sie einleiten, ich müsste es in
deinem Interesse verhindern. Niemand soll erfahren, wie und womit du
den Mann bewirtet hast, der übrigens nicht einer deiner früheren
Kameraden gewesen sein kann, wie du vorgibst, denn mit denen hast du
ja zum Abschied großen Streit gehabt, so dass du nicht jetzt einen
von ihnen traktieren wirst. Es kann also nur ein Bekannter sein, mit
dem du dich leichtsinniger Weise in der Nacht in irgendeiner
städtischen Kneipe verbrüdert hast. Wie konntest du mir, Josie,
alle diese Dinge verbergen? Wenn es dir im Schlafsaal vielleicht
unerträglich war und du zuerst aus diesem unschuldigen Grunde mit
deinem Nachtschwärmen angefangen hast, warum hast du denn kein Wort
davon gesagt, du weißt, ich wollte dir ein eigenes Zimmer
verschaffen und habe darauf geradezu erst über deine Bitten
verzichtet. Es scheint jetzt, als hättest du den allgemeinen
Schlafsaal vorgezogen, weil du dich dort ungebundener fühltest. Und
dein Geld hattest du doch in meiner Kasse aufgehoben und die
Trinkgelder brachtest du mir jede Woche, woher um Gotteswillen,
Junge, hast du das Geld für deine Vergnügungen genommen und woher
wolltest du jetzt das Geld für deinen Freund holen? Das sind
natürlich lauter Dinge, die ich wenigstens jetzt dem Oberkellner gar
nicht andeuten darf, denn dann wäre vielleicht eine Untersuchung
unausweichlich. Du musst also unbedingt aus dem Hotel, und zwar so
schnell als möglich. Geh direkt in die Pension Brenner — du warst
doch schon mehrmals mit Therese dort — sie werden dich auf diese
Empfehlung hin umsonst aufnehmen," — und die Oberköchin
schrieb mit einem goldenen Crayon, den sie aus der Bluse zog, einige
Zeilen auf eine Visitenkarte, wobei sie aber die Rede nicht
unterbrach: "Deinen Koffer werde ich dir gleich nachschicken.
Therese, lauf doch in die Garderobe der Liftjungen und pack seinen
Koffer", aber Therese rührte sich noch nicht, sondern wollte,
wie sie alles Leid ausgehalten hatte, nun auch die Wendung zum
Bessern, welche die Sache Josies dank der Güte der Oberköchin nahm,
ganz miterleben.
Jemand
öffnete, ohne sich zu zeigen, ein wenig die Tür und schloss sie
gleich wieder. Es musste offenbar Giacomo gegolten haben, denn dieser
trat vor und sagte: "Rossmann, ich habe dir etwas auszurichten."
"Gleich", sagte die Oberköchin und steckte Josie, der mit
gesenktem Kopf ihr zugehört hatte, die Visitenkarte in die Tasche,
"dein Geld behalte ich vorläufig, du weißt, du kannst es mir
anvertrauen. Heute bleib zu Hause und überlege deine Angelegenheit,
morgen — heute habe ich nicht Zeit, auch habe ich mich schon viel
zu lange hier aufgehalten — komme ich zu Brenner und wir werden
zusehen, was wir weiter für dich machen können. Verlassen werde ich
dich nicht, das sollst du jedenfalls schon heute wissen. Über deine
Zukunft musst du dir keine Sorgen machen, eher über die letzt
vergangene Zeit." Darauf klopfte sie ihm leicht auf die Schulter
und ging zum Oberkellner hinüber; Josie hob den Kopf und sah der
großen stattlichen Frau nach, die sich in ruhigem Schritt und freier
Haltung von ihm entfernte.
"Bist
du denn gar nicht froh", sagte Therese, die bei ihm
zurückgeblieben war, "dass alles so gut ausgefallen ist?"
"Oh ja", sagte Josie und lächelte ihr zu, wusste aber
nicht, warum er darüber froh sein sollte, dass man ihn als einen
Dieb wegschickte. Aus Thereses Augen strahlte die Freude, als sei es
ihr ganz gleichgültig, ob Josie etwas verbrochen hatte oder nicht,
ob er gerecht beurteilt worden war oder nicht, wenn man ihn nur
gerade entwischen ließ, in Schande oder in Ehren. Und so verhielt
sich gerade Therese, die doch in ihren eigenen Angelegenheiten so
peinlich war und ein nicht ganz eindeutiges Wort der Oberköchin
wochenlang in ihren Gedanken drehte und untersuchte. Mit Absicht
fragte er: "Wirst du meinen Koffer gleich packen und
wegschicken?" Er musste gegen seinen Willen vor Staunen den Kopf
schütteln, so schnell fand sich Therese in die Frage hinein und die
Überzeugung, dass in dem Koffer Dinge waren, die man vor allen
Leuten geheim halten musste, ließ sie gar nicht nach Josie hin sehn,
gar nicht ihm die Hand reichen, sondern nur flüstern: "Natürlich,
Josie, gleich, gleich werde ich den Koffer packen." Und schon
war sie davongelaufen.
Nun
ließ sich aber Giacomo nicht mehr halten, und aufgeregt durch das
lange Warten, rief er laut: "Rossmann, der Mann wälzt sich
unten im Gang und will sich nicht wegschaffen lassen. Sie wollten ihn
ins Krankenhaus bringen lassen, aber er wehrt sich und behauptet, du
würdest niemals dulden, dass er ins Krankenhaus kommt. Man solle ein
Automobil nehmen und ihn nach Hause schicken, du werdest das
Automobil bezahlen. Willst du?"
"Der
Mann hat Vertrauen zu dir", sagte der Oberkellner. Josie zuckte
mit den Schultern und zählte Giacomo sein Geld in die Hand: "Mehr
habe ich nicht", sagte er dann.
"Ich
soll dich auch fragen, ob du mitfahren willst", fragte noch
Giacomo, mit dem Gelde klimpernd.
"Er
wird nicht mitfahren", sagte die Oberköchin.
"Also,
Rossmann", sagte der Oberkellner schnell und wartete gar nicht,
bis Giacomo draußen war, "du bist auf der Stelle entlassen."
Der
Oberportier nickte mehrere Male, als wären es seine eigenen Worte,
die der Oberkellner nur nachspreche.
"Die
Gründe deiner Entlassung kann ich gar nicht laut aussprechen, denn
sonst müsste ich dich einsperren lassen."
Der
Oberportier sah auffallend streng zur Oberköchin hinüber, denn er
hatte wohl erkannt, dass sie die Ursache dieser allzu milden
Behandlung war.
"Jetzt
geh zu Bess, zieh dich um, übergib Bess deine Livree, und verlasse
sofort, aber sofort, das Haus."
Die
Oberköchin schloss die Augen, sie wollte damit Josie beruhigen.
Während er sich zum Abschied verbeugte, sah er flüchtig, wie der
Oberkellner die Hand der Oberköchin wie im Geheimen umfasste und mit
ihr spielte. Der Oberportier begleitete Josie mit schweren Schritten
bis zur Tür, die er ihn nicht schließen ließ, sondern selbst noch
offen hielt, um Josie nachschreien zu können: "In einer
Viertelminute will ich dich beim Haupttor an mir vorübergehen sehn,
merk dir das."
Josie
beeilte sich, wie er nur konnte, um nur beim Haupttor eine
Belästigung zu vermeiden, aber es ging alles viel langsamer, als er
wollte. Zuerst war Bess nicht gleich zu finden und jetzt in der
Frühstückszeit war alles voll Menschen, dann zeigte sich, dass ein
Junge sich Josies alte Hosen ausgeborgt hatte und Josie musste die
Kleiderständer bei fast allen Betten absuchen, ehe er diese Hosen
fand, so dass wohl fünf Minuten vergangen waren, ehe Josie zum
Haupttor kam. Gerade vor ihm ging eine Dame mitten zwischen vier
Herren. Sie gingen alle auf ein großes Automobil zu, das sie
erwartete und dessen Schlag bereits ein Lakai geöffnet hielt,
während er den freien, linken Arm seitwärts waagrecht und steif
ausstreckte, was höchst feierlich aussah. Aber Josie hatte umsonst
gehofft, hinter dieser vornehmen Gesellschaft unbemerkt
hinauszukommen. Schon fasste ihn der Oberportier bei der Hand und zog
ihn zwischen zwei Herren hindurch, die er um Verzeihung bat, zu sich
hin. "Das soll eine Viertelminute gewesen sein", sagte er
und sah Josie von der Seite an, als beobachte er eine schlecht
gehende Uhr. "Komm einmal her", sagte er dann und führte
ihn in die große Portiersloge, die Josie zwar schon längst einmal
anzusehen Lust gehabt hatte, in die er aber jetzt, von dem Portier
geschoben, nur mit Misstrauen eintrat. Er war schon in der Tür, als
er sich umwendete und den Versuch machte, den Oberportier weg zu
schieben und weg zu kommen. "Nein, nein, hier geht man hinein",
sagte der Oberportier und drehte Josie um. "Ich bin doch schon
entlassen", sagte Josie und meinte damit, dass ihm im Hotel
niemand mehr etwas zu befehlen habe. "Solange ich dich halte,
bist du nicht entlassen", sagte der Portier, was allerdings auch
richtig war.
Josie
fand schließlich auch keine Ursache, warum er sich gegen den Portier
wehren sollte. Was konnte ihm denn auch im Grunde noch geschehn?
Überdies bestanden die Wände der Portiersloge ausschließlich aus
ungeheuren Glasscheiben, durch die man die Menge der im Vestibül
gegeneinander strömenden Menschen deutlich sah, als wäre man mitten
unter ihnen. Ja, es schien in der ganzen Portiersloge keinen Winkel
zu geben, in dem man sich vor den Augen der Leute verbergen konnte.
So eilig es dort draußen die Leute zu haben schienen, denn mit
ausgestrecktem Arm, mit gesenktem Kopf, mit spähenden Augen, mit
hoch gehaltenen Gepäckstücken suchten sie ihren Weg, so versäumte
doch kaum einer einen Blick in die Portiersloge zu werfen, denn
hinter deren Scheiben waren immer Ankündigungen und Nachrichten
ausgehängt, die sowohl für die Gäste als für das Hotelpersonal
Wichtigkeit hatten. Außerdem aber bestand noch ein unmittelbarer
Verkehr der Portiersloge mit dem Vestibül, denn an zwei großen
Schiebefenstern saßen zwei Unterportiere und waren unaufhörlich
damit beschäftigt, Auskünfte in den verschiedensten Angelegenheiten
zu erteilen. Das waren geradezu überbürdete Leute und Josie hätte
behaupten wollen, dass der Oberportier, wie er ihn kannte, sich in
seiner Laufbahn um diese Posten herum gewunden hatte. Diese zwei
Auskunftserteiler hatten — von außen konnte man sich das nicht
richtig vorstellen — in der Öffnung des Fensters immer zumindest
zehn fragende Gesichter vor sich. Unter diesen zehn Fragern, die
immerfort wechselten, war oft ein Durcheinander von Sprachen, als sei
jeder Einzelne von einem andern Lande abgesendet. Immer fragten
einige gleichzeitig, immer redeten außerdem einzelne untereinander.
Die meisten wollten etwas aus der Portiersloge holen oder etwas dort
abgeben, so sah man immer auch ungeduldig fuchtelnde Hände aus dem
Gedränge ragen. Einmal hatte einer ein Begehren wegen irgendeiner
Zeitung, die sich unversehens von der Höhe aus entfaltete und für
einen Augenblick alle Gesichter verhüllte. Allem diesen mussten nun
die zwei Unterportiere Stand halten. Bloßes Reden hätte für ihre
Aufgabe nicht genügt, sie plapperten, besonders der eine, ein
düsterer Mann, mit einem das ganze Gesicht umgebenden, dunklen Bart,
gab die Auskünfte ohne die geringste Unterbrechung. Er sah weder auf
die Tischplatte, wo er fortwährend Handreichungen auszuführen
hatte, noch auf das Gesicht dieses oder jenes Fragers, sondern
ausschließlich starr vor sich, offenbar um seine Kräfte zu sparen
und zu sammeln. Übrigens störte wohl sein Bart ein wenig die
Verständlichkeit seiner Rede und Josie konnte in dem Weilchen,
während dessen er bei ihm stehen blieb, sehr wenig von dem Gesagten
auffassen, wenn es auch möglicherweise trotz des englischen
Beiklanges gerade fremde Sprachen waren, die er gebrauchen musste.
Außerdem beirrte es, dass sich eine Auskunft so knapp an die andere
anschloss und in sie überging, so dass oft noch ein Frager mit
gespanntem Gesicht zuhorchte, da er glaubte, es gehe noch um seine
Sache, um erst nach einem Weilchen zu merken, dass er schon erledigt
war. Gewöhnen musste man sich auch daran, dass der Unterportier
niemals bat, eine Frage zu wiederholen, selbst wenn sie im Ganzen
verständlich und nur ein wenig undeutlich gestellt war, ein kaum
merkliches Kopfschütteln verriet dann, dass er nicht die Absicht
habe, diese Frage zu beantworten, und es war Sache des Fragestellers,
seinen eigenen Fehler zu erkennen und die Frage besser zu
formulieren. Besonders damit verbrachten manche Leute sehr lange Zeit
vor dem Schalter.
Zur
Unterstützung der Unterportiere war jedem ein Laufbursche
beigegeben, der im gestreckten Lauf von einem Bücherregal und aus
verschiedenen Kästen alles beizubringen hatte, was der Unterportier
gerade benötigte. Das waren die bestbezahlten, wenn auch
anstrengendsten Posten, die es im Hotel für ganz junge Leute gab, in
gewissem Sinne waren sie auch noch ärger daran, als die
Unterportiere, denn diese hatten bloß nachzudenken und zu reden,
während diese jungen Leute gleichzeitig nachdenken und laufen
mussten. Brachten sie einmal etwas Unrichtiges herbei, so konnte sich
natürlich der Unterportier in der Eile nicht damit aufhalten, ihnen
lange Belehrungen zu geben, er warf vielmehr einfach das, was sie ihm
auf den Tisch legten, mit einem Ruck vom Tisch herunter. Sehr
interessant war die Ablösung der Unterportiere, die gerade kurz nach
dem Eintritt Josies stattfand. Eine solche Ablösung musste natürlich
wenigstens während des Tages öfters stattfinden, denn es gab wohl
kaum einen Menschen, der es länger als eine Stunde hinter dem
Schalter ausgehalten hätte. Zur Ablösungszeit ertönte nun eine
Glocke und gleichzeitig traten aus einer Seitentüre die zwei
Unterportiere, die jetzt an die Reihe kommen sollten, jeder von
seinem Laufjungen gefolgt. Sie stellten sich vorläufig untätig beim
Schalter auf und betrachteten ein Weilchen die Leute draußen, um
festzustellen, in welchem Stadium sich gerade die augenblickliche
Fragebeantwortung befand. Schien ihnen der Augenblick passend, um
einzugreifen, klopften sie dem abzulösenden Unterportier auf die
Schulter, der, trotzdem er sich bisher um nichts, was hinter seinem
Rücken vorging, gekümmert hatte, sofort verstand und seinen Platz
freimachte. Das Ganze ging so rasch, dass es oft die Leute draußen
überraschte und sie aus Schrecken über das so plötzlich vor ihnen
auftauchende neue Gesicht fast zurückwichen. Die abgelösten zwei
Männer streckten sich und begossen dann über zwei bereit stehenden
Waschbecken ihre heißen Köpfe, die abgelösten Laufjungen durften
sich aber noch nicht strecken, sondern hatten noch ein Weilchen damit
zu tun, die während ihrer Dienststunden auf den Boden geworfenen
Gegenstände aufzuheben und an ihren Platz zu legen.
Alles
dieses hatte Josie mit der angespanntesten Aufmerksamkeit in wenigen
Augenblicken in sich aufgenommen und mit leichten Kopfschmerzen
folgte er still dem Oberportier, der ihn weiterführte. Offenbar
hatte auch der Oberportier den großen Eindruck beobachtet, den diese
Art der Auskunftserteilung auf Josie gemacht hatte, und er riss
plötzlich an Josies Hand und sagte: "Siehst du, so wird hier
gearbeitet." Josie hatte ja allerdings hier im Hotel nicht
gefaulenzt, aber von solcher Arbeit hatte er doch keine Ahnung
gehabt, und fast völlig daran vergessend, dass der Oberportier sein
großer Feind war, sah er zu ihm auf und nickte stumm und anerkennend
mit dem Kopf. Das schien dem Oberportier aber wieder eine
Überschätzung der Unterportiere und vielleicht eine Unhöflichkeit
gegenüber seiner Person zu sein, denn, als hätte er Josie zum
Narren gehalten, rief er ohne Besorgnis, dass man ihn hören könnte:
"Natürlich ist dieses hier die dümmste Arbeit im ganzen Hotel;
wenn man eine Stunde zugehört hat, kennt man so ziemlich alle
Fragen, die gestellt werden und den Rest braucht man ja nicht zu
beantworten. Wenn du nicht frech und ungezogen gewesen wärest, wenn
du nicht gelogen, gelumpt, gesoffen und gestohlen hättest, hätte
ich dich vielleicht bei so einem Fenster anstellen können, denn dazu
kann ich ausschließlich nur vernagelte Köpfe brauchen." Josie
überhörte gänzlich die Beschimpfung, so weit sie ihn betraf, so
sehr war er darüber empört, dass die ehrliche und schwere Arbeit
der Unterportiere, statt anerkannt zu werden, verhöhnt wurde, und
überdies verhöhnt von einem Mann, der, wenn er es gewagt hätte,
sich einmal einem solchen Schalter zu setzen, gewiss nach paar
Minuten unter dem Gelächter aller Frager hätte abziehen müssen.
"Lassen Sie mich", sagte Josie, seine Neugierde in Betreff
der Portiersloge war bis zum Übermaß gestillt, "ich will mit
Ihnen nichts mehr zu tun haben." "Das genügt nicht, um
fort zu kommen", sagte der Oberportier, drückte Josies Arme,
dass dieser sie gar nicht rühren konnte und trug ihn förmlich an
das andere Ende der Portiersloge. Sahen die Leute draußen diese
Gewalttätigkeit des Oberportiers nicht? Oder wenn sie sie sahen, wie
fassten sie sie denn auf, dass keiner sich darüber aufhielt, dass
niemand wenigstens an die Scheibe klopfte, um dem Oberportier zu
zeigen, dass er beobachtet werde und nicht nach seinem Gutdünken mit
Josie verfahren dürfe.
Aber
bald hatte Josie auch keine Hoffnung mehr, vom Vestibül aus Hilfe zu
bekommen, denn der Oberportier griff an eine Schnur und über den
Scheiben der halben Portiersloge zogen sich im Fluge bis in die
letzte Höhe schwarze Vorhänge zusammen. Auch in diesem Teil der
Portiersloge waren Menschen, aber alle in voller Arbeit und ohne Ohr
und Auge für alles, was nicht mit ihrer Arbeit zusammenhing.
Außerdem waren sie ganz vom Oberportier abhängig, und hätten statt
Josie zu helfen, lieber geholfen, alles zu verbergen, was auch dem
Oberportier einfallen sollte zu tun. Da waren z.B. sechs
Unterportiere bei sechs Telefonen. Die Anordnung war, wie man gleich
bemerkte, so getroffen, dass immer einer bloß Gespräche aufnahm,
während sein Nachbar, nach den vom ersten empfangenen Notizen die
Aufträge telefonisch weiterleitete. Es waren dies jene neuesten
Telefone, für die keine Telefonzellen nötig waren, denn das
Glockenläuten war nicht lauter als ein Zirpen, man konnte in das
Telefon mit Flüstern hinein sprechen und doch kamen die Worte dank
besonderer elektrischer Verstärkungen mit Donnerstimme an ihrem
Ziele an. Deshalb hörte man die drei Sprecher an ihren Telefonen
kaum und hätte glauben können, sie beobachteten murmelnd
irgendeinen Vorgang in der Telefonmuschel, während die drei andern
wie betäubt von dem auf sie heran dringenden, für die Umgebung im
Übrigen unhörbaren Lärm die Köpfe auf das Papier sinken ließen,
das zu beschreiben ihre Aufgabe war. Wieder stand auch hier neben
jedem der drei Sprecher ein Junge zur Hilfeleistung; diese drei
Jungen taten nichts anderes, als abwechselnd den Kopf horchend zu
ihrem Herrn strecken und dann eilig, als würden sie gestochen in
riesigen, gelben Büchern — die umschlagenden Blättermassen
überrauschten bei Weitem jedes Geräusch der Telefone — die
Telefonnummern heraussuchen.
Josie
konnte sich tatsächlich nicht enthalten, alles das genau zu
verfolgen, trotzdem der Oberportier, der sich gesetzt hatte, ihn in
einer Art Umklammerung vor sich hinhielt. "Es ist meine
Pflicht", sagte der Oberportier und schüttelte Josie, als wolle
er nur erreichen, dass dieser ihm sein Gesicht zuwende, "das,
was der Oberkellner aus welchen Gründen immer versäumt hat, im
Namen der Hoteldirektion wenigstens ein wenig nachzuholen. So tritt
hier immer jeder für den andern ein. Ohne das wäre ein so großer
Betrieb undenkbar. Du willst vielleicht sagen, dass ich nicht dein
unmittelbarer Vorgesetzter bin, nun desto schöner ist es von mir,
dass ich mich dieser sonst verlassenen Sache annehme. Im Übrigen bin
ich in gewissem Sinne als Oberportier über alle gesetzt, denn mir
unterstehen doch alle Tore des Hotels, also dieses Haupttor, die drei
Mittel- und die zehn Nebentore, von den unzähligen Türchen und
türlosen Ausgängen gar nicht zu reden. Natürlich haben mir alle in
Betracht kommenden Bedienungsmannschaften unbedingt zu gehorchen.
Gegenüber diesen großen Ehren habe ich natürlich andererseits vor
der Hoteldirektion die Verpflichtung, niemanden heraus zu lassen, der
nur im Geringsten verdächtig ist. Gerade du aber kommst mir, weil es
mir so beliebt, sogar stark verdächtig vor." Und vor Freude
darüber hob er die Hände und ließ sie wieder stark zurückschlagen,
dass es klatschte und Weh tat. "Es ist möglich", fügte er
hinzu und unterhielt sich dabei königlich, "dass du bei einem
andern Ausgang unbemerkt herausgekommen wärest, denn du standst mir
natürlich nicht dafür, besondere Anweisungen deinetwegen ergehen zu
lassen. Aber da du nun einmal hier bist, will ich dich genießen. Im
Übrigen habe ich nicht daran gezweifelt, dass du das Rendezvous, das
wir uns beim Haupttor gegeben hatten, auch einhalten wirst, denn das
ist eine Regel, dass der Freche und Unfolgsame gerade dort und dann
mit seinen Lastern aufhört, wo es ihm schadet. Du wirst das an dir
selbst gewiss noch oft beobachten können."
"Glauben
Sie nicht", sagte Josie und atmete den eigentümlich dumpfen
Geruch ein, der vom Oberportier ausging und den er erst hier, wo er
so lange in seiner nächsten Nähe stand, bemerkte, "glauben Sie
nicht", sagte er, "dass ich vollständig in ihrer Gewalt
bin, ich kann ja schreien." "Und ich kann dir den Mund
stopfen", sagte der Oberportier ebenso ruhig und schnell, wie er
es wohl nötigenfalls auszuführen gedachte. "Und meinst du denn
wirklich, wenn man deinetwegen hereinkommen sollte, es würde sich
jemand finden, der dir Recht geben würde, mir, dem Oberportier
gegenüber. Du siehst also wohl den Unsinn deiner Hoffnungen ein.
Weißt du, wie du noch in der Uniform warst, da hast du ja
tatsächlich noch etwas beachtenswert ausgesehen, aber in diesem
Anzug, der tatsächlich nur in Europa möglich ist." Und er
zerrte an den verschiedensten Stellen des Anzugs, der jetzt
allerdings, trotzdem er vor fünf Monaten noch fast neu gewesen war,
abgenützt, faltig, vor allem aber fleckig war, was hauptsächlich
auf die Rücksichtslosigkeit der Liftjungen zurückzuführen war, die
jeden Tag, um den Saalboden dem allgemeinen Befehl gemäß, glatt und
staubfrei zu erhalten, aus Faulheit keine eigentliche Reinigung
vornahmen, sondern mit irgendeinem Öl den Boden sprengten und damit
gleichzeitig alle Kleider auf den Kleiderständern schändlich
bespritzten. Nun konnte man seine Kleider aufheben, wo man wollte,
immer fand sich einer, der gerade seine Kleider nicht bei der Hand
hatte, dagegen die versteckten fremden Kleider mit Leichtigkeit fand
und sich ausborgte. Und womöglich war dieser eine gerade derjenige,
der an diesem Tage die Saalreinigung vorzunehmen hatte und der dann
die Kleider nicht nur mit dem Öl bespritzte, sondern vollständig
von oben bis unten begoss. Nur Renell hatte seine kostbaren Kleider
an irgendeinem geheimen Orte versteckt, von wo sie kaum jemals einer
hervor gezogen hatte, zumal ja auch niemand, vielleicht aus Bosheit
oder Geiz, fremde Kleider sich ausborgte, sondern aus bloßer Eile
und Nachlässigkeit dort nahm, wo er sie fand. Aber selbst auf
Renells Kleid war mitten auf dem Rücken ein kreisrunder, rötlicher
Ölfleck, und in der Stadt hätte ein Kenner an diesem Fleck selbst
in diesem eleganten jungen Mann den Liftjungen feststellen können.
Und
Josie sagte sich bei diesen Erinnerungen, dass er auch als Liftjunge
genug gelitten hatte und dass doch alles vergebens gewesen war, denn
nun war dieser Liftjungendienst, nicht wie er gehofft hatte, eine
Vorstufe zu besserer Anstellung gewesen, vielmehr war er jetzt noch
tiefer herabgedrückt worden und sogar sehr nahe an das Gefängnis
geraten. Überdies wurde er jetzt noch vom Oberportier festgehalten,
der wohl darüber nachdachte, wie er Josie noch weiter beschämen
könne. Und völlig daran vergessend, dass der Oberportier durchaus
nicht der Mann war, der sich vielleicht überzeugen ließ, rief
Josie, während er sich mit der gerade freien Hand mehrmals gegen die
Stirn schlug: "Und wenn ich Sie wirklich nicht gegrüßt haben
sollte, wie kann denn ein erwachsener Mensch wegen eines
unterlassenen Grußes so rachsüchtig werden!"
"Ich
bin nicht rachsüchtig", sagte der Oberportier, "ich will
nur deine Taschen durchsuchen. Ich bin zwar überzeugt, dass ich
nichts finden werde, denn du wirst wohl so vorsichtig gewesen sein
und deinen Freund alles allmählich, jeden Tag etwas, hast
wegschleppen lassen. Aber durchsucht worden musst du sein." Und
schon griff er in eine von Josies Rocktaschen, mit solcher Gewalt,
dass die seitlichen Nähte platzten. "Da ist also schon nichts",
sagte er und überklaubte in seiner Hand den Inhalt dieser Tasche,
einen Reklamekalender des Hotels, ein Blatt mit einer Aufgabe aus
kaufmännischer Korrespondenz, einige Rock- und Hosenknöpfe, die
Visitenkarte der Oberköchin, einen Polierstift für die Nägel, den
ihm einmal ein Gast beim Kofferpacken zugeworfen hatte, einen alten
Taschenspiegel, den ihm Renell zum Dank für vielleicht zehn
Vertretungen im Dienste geschenkt hatte, und noch paar Kleinigkeiten.
"Das ist also nichts", wiederholte der Oberportier und warf
alles unter die Bank, als sei es selbstverständlich, dass das
Eigentum Josies, so weit es nicht gestohlen war, unter die Bank
gehöre. "Jetzt ist aber genug", sagte sich Josie — sein
Gesicht musste glühend rot sein — und als der Oberportier durch
die Gier unvorsichtig gemacht, in Josies zweiter Tasche herum grub,
fuhr Josie mit einem Ruck aus den Ärmeln heraus, stieß im ersten,
noch unbeherrschten Sprung einen Unterportier ziemlich stark gegen
seinen Apparat, lief durch die schwüle Luft eigentlich langsamer,
als er beabsichtigt hatte, zur Tür, war aber glücklich draußen,
ehe der Oberportier in seinem schweren Mantel sich auch nur hatte
erheben können. Die Organisation des Wachdienstes musste doch nicht
so mustergültig sein, es läutete zwar auf einigen Seiten, aber Gott
weiß zu welchen Zwecken, Hotelangestellte gingen zwar im Torgang in
solcher Anzahl kreuz und quer, dass man fast daran denken konnte, sie
wollten in unauffälliger Weise den Ausgang unmöglich machen, denn
viel sonstigen Sinn konnte man in diesem Hin- und Hergehn nicht
erkennen — jedenfalls kam Josie bald ins Freie, musste aber noch
das Hoteltrottoir entlang gehn, denn zur Straße konnte man nicht
gelangen, da eine ununterbrochene Reihe von Automobilen stockend sich
am Haupttor vorbei bewegte. Diese Automobile waren, um nur so bald
als möglich zu ihrer Herrschaft zu kommen, geradezu ineinander
gefahren, jedes wurde vom nachfolgenden vorwärts geschoben.
Fußgänger, die es besonders eilig hatten auf die Straße zu
gelangen, stiegen zwar hier und da durch die einzelnen Automobile
hindurch, als sei dort ein öffentlicher Durchgang, und es war ihnen
ganz gleichgültig, ob im Automobil nur der Chauffeur und die
Dienerschaft saß oder auch die vornehmsten Leute. Ein solches
Benehmen schien aber Josie doch übertrieben und man musste sich wohl
in den Verhältnissen schon auskennen, um das zu wagen, wie leicht
konnte er an ein Automobil geraten, dessen Insassen das übel nahmen,
ihn hinunter warfen und einen Skandal veranlassten und nichts hatte
er, als ein entlaufener, verdächtiger Hotelangestellter in
Hemdsärmeln mehr zu fürchten. Schließlich konnte ja die Reihe der
Automobile nicht in Ewigkeit so fort gehn und er war auch, solange er
sich ans Hotel hielt, eigentlich am unverdächtigsten. Tatsächlich
gelangte Josie endlich an eine Stelle, wo die Automobilreihe zwar
nicht aufhörte, aber zur Straße hin abbog und lockerer wurde.
Gerade wollte er in den Verkehr der Straße schlüpfen, in dem wohl
noch viel verdächtiger aussehende Leute als er war, frei herum
liefen, da hörte er in der Nähe seinen Namen rufen. Er wandte sich
um und sah, wie zwei ihm wohl bekannte Liftjungen aus einer
niedrigen, kleinen Türöffnung, die wie der Eingang einer Gruft
aussah, mit äußerster Anstrengung eine Trage heraus zogen, auf der,
wie Josie nun erkannte, wahrhaftig Robinson lag, Kopf, Gesicht und
Arme mannigfaltig umbunden. Es war hässlich anzusehn, wie er die
Arme an die Augen führte, um mit dem Verbande die Tränen
abzuwischen, die er vor Schmerzen oder vor sonstigem Leid oder gar
vor Freude über das Wiedersehen mit Josie vergoss. "Rossmann",
rief er vorwurfsvoll, "warum lässt du mich denn solange warten.
Schon eine Stunde verbringe ich damit, mich zu wehren, damit ich
nicht früher weg transportiert werde, ehe du kommst. Diese Kerle,"
— und er gab dem einen Liftjungen ein Kopfstück, als sei er durch
die Verbände vor Schlägen geschützt, — "sind ja wahre
Teufel. Ach Rossmann, der Besuch bei dir ist mir teuer zu stehen
gekommen." "Was hat man dir denn gemacht?" sagte Josie
und trat an die Trage heran, welche die Liftjungen, um sich
auszuruhen, lachend nieder stellten. "Du fragst noch",
seufzte Robinson, "und siehst, wie ich ausschaue. Bedenke! Ich
bin ja höchstwahrscheinlich für mein ganzes Leben zum Krüppel
geschlagen. Ich habe fürchterliche Schmerzen, von hier bis hier",
—und er zeigte zuerst auf den Kopf und dann auf die Zehen. "Ich
möchte dir wünschen, dass du gesehen hättest, wie ich aus der Nase
geblutet habe. Meine Weste ist ganz verdorben, die habe ich überhaupt
dort gelassen, meine Hosen sind zerfetzt, ich bin in Unterhosen",
—und er lüftete die Decke ein wenig und lud Josie ein, unter sie
zu schauen. "Was wird nur aus mir werden! Ich werde zumindest
einige Monate liegen müssen und das will ich dir gleich sagen, ich
habe niemanden andern als dich, der mich pflegen könnte, Delamarche
ist ja viel zu ungeduldig. Rossmann, Rossmannchen!" Und Robinson
streckte die Hand nach dem ein wenig zurücktretenden Josie aus, um
ihn durch Streicheln für sich zu gewinnen. "Warum habe ich dich
nur besuchen müssen!" wiederholte er mehrere Male, um Josie die
Mitschuld nicht vergessen zu lassen, die dieser an seinem Unglück
hatte. Nun erkannte zwar Josie sofort, dass das Klagen Robinsons
nicht von seinen Wunden, sondern von dem ungeheuren Katzenjammer
stammte, in dem er sich befand, da er in schwerer Trunkenheit kaum
eingeschlafen, gleich geweckt und zu seiner Überraschung blutig
geboxt worden war und sich in der wachen Welt gar nicht mehr
zurechtfinden konnte. Die Bedeutungslosigkeit der Wunden war schon an
den unförmlichen, aus alten Fetzen bestehenden Verbänden zu sehen,
mit denen ihn die Liftjungen offenbar zum Spaß ganz und gar
umwickelt hatten. Und auch die zwei Liftjungen, an den Enden der
Trage, prusteten vor Lachen von Zeit zu Zeit. Nun war aber hier nicht
der Ort, Robinson zur Besinnung zu bringen, denn stürmend eilten
hier die Passanten, ohne sich um die Gruppe an der Trage zu kümmern,
vorbei, öfters sprangen Leute mit richtigem Turnerschwung über
Robinson hinweg, -der mit Josies Geld bezahlte Chauffeur rief:
"Vorwärts, vorwärts", die Liftjungen hoben mit letzter
Kraft die Trage auf, Robinson erfasste Josies Hand und sagte
schmeichelnd: "Nun komm, so komm doch!" War nicht Josie, in
dem Aufzug, in dem er sich befand, im Dunkel des Automobils noch am
besten aufgehoben? Und so setzte er sich neben Robinson, der den Kopf
an ihn lehnte, die zurück bleibenden Liftjungen schüttelten ihm,
als ihrem gewesenen Kollegen, durch das Kupeefenster herzlich die
Hand und das Automobil drehte sich mit scharfer Wendung zur Straße
hin; es schien, als müsse unbedingt ein Unglück geschehen, aber
gleich nahm der alles umfassende Verkehr auch die schnurgerade Fahrt
dieses Automobils ruhig in sich auf.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen