Oberköchin/Therese
Berchtold aus Pommern/So allein/Einiges können/Liftboy/Giacomo/Tod
von Thereses Mutter/16, Deutscher aus Prag, Böhmen/Thereses
Erzählung/Renell
Im
Hotel wurde Josie gleich in eine Art Büro geführt, in welchem die
Oberköchin, ein Vormerkbuch in der Hand, einer jungen
Schreibmaschinistin einen Brief in die Schreibmaschine diktierte. Das
äußerst präzise Diktieren, der beherrschte und elastische
Tastenschlag jagten an dem nur hier und da merklichen Ticken der
Wanduhr vorüber, die schon fast halb zwölf Uhr zeigte. "So!"
sagte die Oberköchin, klappte das Vormerkbuch zu, die
Schreibmaschinistin sprang auf und stülpte den Holzdeckel über die
Maschine, ohne bei dieser mechanischen Arbeit die Augen von Josie zu
lassen. Sie sah noch wie ein Schulmädchen aus, ihre Schürze war
sehr sorgfältig gebügelt, auf den Achseln z.B. gewellt, die Frisur
recht hoch und man staunte ein wenig, wenn man nach diesen
Einzelheiten ihr ernstes Gesicht sah. Nach Verbeugungen zuerst gegen
die Oberköchin, dann gegen Josie entfernte sie sich und Josie sah
unwillkürlich die Oberköchin mit einem fragenden Blicke an.
"Das
ist aber schön, dass Sie nun doch gekommen sind", sagte die
Oberköchin. "Und ihre Kameraden?" "Ich habe sie nicht
mitgenommen", sagte Josie. "Die marschieren wohl sehr früh
aus", sagte die Oberköchin, wie um sich die Sache zu erklären.
"Muss sie denn nicht denken, dass ich auch mit marschiere?"
fragte sich Josie und sagte deshalb, um jeden Zweifel auszuschließen:
"Wir sind in Unfrieden auseinander gegangen." Die
Oberköchin schien das als eine angenehme Nachricht aufzufassen.
"Dann sind Sie also frei?" fragte sie. "Ja, frei bin
ich", sagte Josie und nichts schien ihm wertloser.
"Hören
Sie, möchten Sie nicht hier im Hotel eine Stelle annehmen?"
fragte die Oberköchin. "Sehr gern", sagte Josie, "ich
habe aber entsetzlich wenig Kenntnisse. Ich kann z.B. nicht einmal
auf der Schreibmaschine schreiben." "Das ist nicht das
wichtigste", sagte die Oberköchin. "Sie bekämen eben
vorläufig nur eine ganz kleine Anstellung und müssten dann zusehen,
durch Fleiß und Aufmerksamkeit sich hinauf zu bringen. Jedenfalls
aber glaube ich, dass es für Sie besser und passender wäre, sich
irgendwo festzusetzen, statt so durch die Welt zu bummeln. Dazu
scheinen Sie mir nicht gemacht."
"Das
würde alles auch der Onkel unterschreiben", sagte sich Josie
und nickte zustimmend. Gleichzeitig erinnerte er sich, dass er, um
den man so besorgt war, sich noch gar nicht vorgestellt hatte.
"Entschuldigen Sie bitte", sagte er, "dass ich mich
noch gar nicht vorgestellt habe, ich heiße Josie Rossmann."
"Sie sind ein Deutscher, nicht wahr?" "Ja", sagte
Josie, "ich bin noch nicht lange in Amerika. "Von wo sind
Sie denn?" "Aus Prag, in Böhmen", sagte Josie. "Sehn
Sie einmal an", rief die Oberköchin, in einem stark englisch
betonten Deutsch und hob fast die Arme, "dann sind wir ja
Landsleute, ich heiße Grete Mitzelbach und bin aus Wien. Und Prag
kenne ich ja ausgezeichnet, ich war ja ein halbes Jahr in der
Goldenen Gans auf dem Wenzelsplatz angestellt. Aber denken Sie nur
einmal!" "Wann ist das gewesen?" fragte Josie. "Das
ist schon viele, viele Jahre her." "Die alte Goldene Gans",
sagte Josie, "ist vor zwei Jahren niedergerissen worden."
"Ja, freilich", sagte die Oberköchin, ganz in Gedanken an
vergangene Zeiten.
Mit
einem Male aber wieder lebhaft werdend, rief sie und fasste dabei
Josies Hände: "Jetzt, da es sich herausgestellt hat, dass Sie
mein Landsmann sind, dürfen Sie um keinen Preis von hier fort. Das
dürfen Sie mir nicht antun. Hätten Sie z.B. Lust Liftjunge zu
werden? Sagen Sie nur Ja und Sie sind es. Wenn Sie ein bisschen herum
gekommen sind, werden Sie wissen, dass es nicht besonders leicht ist,
solche Stellen zu bekommen, denn sie sind der beste Anfang, den man
sich denken kann. Sie kommen mit allen Gästen zusammen, man sieht
Sie immer, man gibt ihnen kleine Aufträge, kurz, Sie haben jeden Tag
die Möglichkeit, zu etwas Besserem zu gelangen. Für alles Übrige
lassen Sie mich sorgen!" "Liftjunge möchte ich ganz gerne
sein", sagte Josie nach einer kleinen Pause. Es wäre ein großer
Unsinn gewesen, gegen die Stelle eines Liftjungen mit Rücksicht auf
seine fünf Gymnasialklassen Bedenken zu haben. Eher wäre hier in
Amerika Grund gewesen, sich der fünf Gymnasialklassen zu schämen.
Übrigens hatten die Liftjungen Josie immer gefallen, sie waren ihm
wie der Schmuck der Hotels vorgekommen. "Sind nicht
Sprachkenntnisse erforderlich?" fragte er noch. "Sie
sprechen Deutsch und ein schönes Englisch, das genügt vollkommen."
"Englisch habe ich erst in Amerika in zweieinhalb Monaten
erlernt", sagte Josie, er glaubte, seinen einzigen Vorzug nicht
verschweigen zu dürfen. "Das spricht schon genügend für Sie",
sagte die Oberköchin. "Wenn ich daran denke, welche
Schwierigkeiten mir das Englisch gemacht hat. Das ist allerdings
schon seine dreißig Jahre her. Gerade gestern habe ich davon
gesprochen. Gestern war nämlich mein fünfzigster Geburtstag."
Und sie suchte lächelnd den Eindruck von Josies Mienen abzulesen,
den die Würde dieses Alters auf ihn machte. "Dann wünsche ich
Ihnen viel Glück", sagte Josie. "Das kann man immer
brauchen", sagte sie, schüttelte Josie die Hand und wurde
wieder halb traurig, über diese alte Redensart aus der Heimat, die
ihr da im Deutschsprechen eingefallen war.
"Aber
ich halte Sie hier auf", rief sie dann. "Und Sie sind
gewiss sehr müde und wir können auch alles viel besser bei Tag
besprechen. Die Freude einen Landsmann getroffen zu haben, macht ganz
gedankenlos. Kommen Sie, ich werde Sie in ihr Zimmer führen."
"Ich habe noch eine Bitte, Frau Oberköchin", sagte Josie
im Anblick des Telefonkastens, der auf einem Tische stand. "Es
ist möglich, dass mir morgen, vielleicht sehr früh, meine früheren
Kameraden eine Fotographie bringen, die ich dringend brauche. Wären
Sie so freundlich und würden Sie dem Portier telefonieren, er möchte
die Leute zu mir schicken oder mich holen lassen." "Gewiss",
sagte die Oberköchin, "aber würde es nicht genügen, wenn er
ihnen die Fotografie abnimmt? Was ist es denn für eine Fotografie,
wenn man fragen darf?" "Es ist die Fotographie meiner
Eltern", sagte Josie, "nein, ich muss mit den Leuten selbst
sprechen." Die Oberköchin sagte nichts weiter und gab
telefonisch in die Portiersloge den entsprechenden Befehl, wobei sie
536 als Zimmernummer Josies nannte.
Sie
gingen dann durch eine der Eingangstüre entgegengesetzte Tür auf
einen kleinen Gang hinaus, wo an dem Geländer eines Aufzuges ein
kleiner Liftjunge schlafend lehnte. "Wir können uns selbst
bedienen", sagte die Oberköchin leise und ließ Josie in den
Aufzug eintreten. "Eine Arbeitszeit von zehn bis zwölf Stunden
ist eben ein wenig zu viel für einen solchen Jungen", sagte sie
dann, während sie aufwärts fuhren. "Aber es ist eigentümlich
in Amerika. Da ist dieser kleine Junge z.B., er ist auch erst vor
einem halben Jahr mit seinen Eltern hier angekommen, er ist ein
Italiener. Jetzt sieht es aus, als könne er die Arbeit unmöglich
aushalten, hat schon kein Fleisch im Gesicht, schläft im Dienst ein,
trotzdem er von Natur sehr bereitwillig ist — aber er muss nur noch
ein halbes Jahr hier oder irgendwo anders in Amerika dienen und hält
alles mit Leichtigkeit aus und in fünf Jahren wird er ein starker
Mann sein. Von solchen Beispielen könnte ich Ihnen stundenlang
erzählen. Dabei denke ich gar nicht an Sie, denn Sie sind ein
kräftiger Junge. Sie sind siebzehn Jahre alt, nicht?" "Ich
werde nächsten Monat siebzehn", antwortete Josie. "Sogar
erst sechzehn!" sagte die Oberköchin. "Also nur Mut!"
Oben
führte sie Josie in ein Zimmer, das zwar schon als Dachzimmer eine
schiefe Wand hatte, im Übrigen aber bei einer Beleuchtung durch zwei
Glühlampen sich sehr wohnlich zeigte. "Erschrecken Sie nicht
über die Einrichtung", sagte die Oberköchin, "es ist
nämlich kein Hotelzimmer, sondern ein Zimmer meiner Wohnung, die
aber aus drei Zimmern besteht, so dass Sie mich nicht im Geringsten
stören. Ich sperre die Verbindungstüre ab, so dass Sie ganz
ungeniert bleiben. Morgen als neuer Hotelangestellter werden Sie
natürlich ihr eigenes Zimmerchen bekommen. Wären Sie mit ihren
Kameraden gekommen, dann hätte ich Ihnen in der gemeinsamen
Schlafkammer der Hausdiener aufbetten lassen, aber da Sie allein
sind, denke ich, dass es Ihnen hier besser passen wird, wenn Sie auch
nur auf einem Sofa schlafen müssen. Und nun schlafen Sie wohl, damit
Sie sich für den Dienst kräftigen. Er wird morgen noch nicht zu
streng sein." "Ich danke Ihnen vielmals für ihre
Freundlichkeit." "Warten Sie", sagte sie beim Ausgang
stehen bleibend, "da wären Sie aber bald geweckt worden."
Und sie ging zu der einen Seitentür des Zimmers, klopfte und rief:
"Therese!" "Bitte, Frau Oberköchin", meldete
sich die Stimme der kleinen Schreibmaschinistin. "Wenn du mich
früh wecken gehst, so musst du über den Gang gehen, hier im Zimmer
schläft ein Gast. Er ist todmüde." Sie lächelte Josie zu,
während sie das sagte. "Hast du verstanden?" "Ja,
Frau Oberköchin." "Also dann gute Nacht!" "Gute
Nacht wünsch ich."
"Ich
schlafe nämlich", sagte die Oberköchin zur Erklärung, "seit
einigen Jahren ungemein schlecht. Jetzt kann ich ja mit meiner
Stellung zufrieden sein und brauche eigentlich keine Sorgen zu haben.
Aber es müssen die Folgen meiner früheren Sorgen sein, die mir
diese Schlaflosigkeit verursachen. Wenn ich um drei Uhr früh
einschlafe, kann ich froh sein. Da ich aber schon um fünf,
spätestens um halb sechs wieder auf dem Platze sein muss, muss ich
mich wecken lassen und zwar besonders vorsichtig, damit ich nicht
noch nervöser werde, als ich schon bin. Und da weckt mich eben die
Therese. Aber jetzt wissen Sie wirklich schon alles und ich komme gar
nicht weg. Gute Nacht!" Und trotz ihrer Schwere huschte sie fast
aus dem Zimmer.
Josie
freute sich auf den Schlaf, denn der Tag hatte ihn sehr hergenommen.
Und behaglichere Umgebung konnte er für einen langen, ungestörten
Schlaf gar nicht wünschen. Das Zimmer war zwar nicht zum
Schlafzimmer bestimmt, es war eher ein Wohnzimmer oder richtiger ein
Repräsentationszimmer der Oberköchin und ein Waschtisch war ihm
zuliebe eigens für diesen Abend hergebracht, aber dennoch fühlte
sich Josie nicht als Eindringling, sondern nur desto besser versorgt.
Sein Koffer war richtig hergestellt und wohl schon lange nicht in
größerer Sicherheit gewesen. Auf einem niedrigen Schrank mit
Schiebefächern, über den eine großmaschige wollene Decke gezogen
war, standen verschiedene Fotografien in Rahmen und unter Glas, bei
der Besichtigung des Zimmers blieb Josie dort stehn und sah sie an.
Es waren meist alte Fotografien und stellten in der Mehrzahl Mädchen
dar, die in unmodernen, unbehaglichen Kleidern, mit locker
aufgesetzten, kleinen aber hochgehenden Hüten, die rechte Hand auf
einen Schirm gestützt, dem Beschauer zugewendet waren und doch mit
den Blicken auswichen. Unter den Herrenbildnissen fiel Josie
besonders das Bild eines jungen Soldaten auf, der das Käppi auf ein
Tischchen gelegt hatte, stramm mit seinem wilden schwarzen Haar
dastand und voll von einem stolzen, aber unterdrückten Lachen war.
Die Knöpfe seiner Uniform waren auf der Fotografie nachträglich
vergoldet worden. Alle diese Fotografien stammten wohl noch aus
Europa, man hätte dies auf der Rückseite wahrscheinlich auch genau
ablesen können, aber Josie wollte sie nicht in die Hand nehmen. So
wie diese Fotografien hier standen, so hatte er auch die Fotografie
seiner Eltern in seinem künftigen Zimmer aufstellen mögen.
Gerade
streckte er sich nach einer gründlichen Waschung des ganzen Körpers,
die er seiner Nachbarin wegen möglichst leise durchzuführen sich
bemüht hatte, im Vorgenuss des Schlafes auf seinem Kanapee, da
glaubte er ein schwaches Klopfen an einer Türe zu hören. Man konnte
nicht gleich feststellen, an welcher Tür es war, es konnte auch bloß
ein zufälliges Geräusch sein. Es wiederholte sich auch nicht gleich
und Josie schlief schon fast, als es wieder erfolgte. Aber nun war
kein Zweifel mehr, dass es ein Klopfen war und von der Tür der
Schreibmaschinistin herkam. Josie lief auf den Fußspitzen zur Tür
hin und fragte so leise, dass es, wenn man trotz allem nebenan doch
schlief, niemanden hätte wecken können: "Wünschen Sie etwas?"
Sofort und ebenso leise kam die Antwort: "Möchten Sie nicht die
Tür öffnen? Der Schlüssel steckt auf ihrer Seite." "Bitte",
sagte Josie, "ich muss mich nur zuerst anziehen." Es gab
eine kleine Pause, dann hieß es: "Das ist nicht nötig. Machen
Sie auf und legen Sie sich ins Bett, ich werde ein wenig warten."
"Gut", sagte Josie und führte es auch so aus, nur drehte
er außerdem noch das elektrische Licht auf. "Ich liege schon",
sagte er dann etwas lauter. Da trat auch schon aus ihrem dunklen
Zimmer die kleine Schreibmaschinistin, genau so angezogen wie unten
im Büro; sie hatte wohl die ganze Zeit über nicht daran gedacht,
schlafen zu gehen.
"Entschuldigen
Sie vielmals", sagte sie und stand ein wenig gebückt vor Josies
Lager, "und verraten Sie mich bitte nicht. Ich will Sie auch
nicht lange stören, ich weiß, dass Sie todmüde sind." "Es
ist nicht so arg", sagte Josie, "aber es wäre vielleicht
doch besser gewesen, ich hätte mich angezogen." Er musste
ausgestreckt daliegen, um bis an den Hals zugedeckt sein zu können,
denn er besaß kein Nachthemd. "Ich bleibe ja nur einen
Augenblick", sagte sie und griff nach einem Sessel, "kann
ich mich zum Kanapee setzen?" Josie nickte. Da setzte sie sich
so eng zum Kanapee, dass Josie an die Mauer rücken musste, um zu ihr
aufschauen zu können. Sie hatte ein rundes, gleichmäßiges Gesicht,
nur die Stirn war ungewöhnlich hoch, aber das konnte auch vielleicht
nur an der Frisur liegen, die ihr nicht recht passte. Ihr Anzug war
sehr rein und sorgfältig. In der linken Hand quetschte sie ein
Taschentuch.
"Werden
Sie lange hier bleiben?" fragte sie. "Es ist noch nicht
ganz bestimmt", antwortete Josie, "aber ich denke, ich
werde bleiben." "Das wäre nämlich sehr gut", sagte
sie und fuhr mit dem Taschentuch über ihr Gesicht, "ich bin
hier nämlich so allein." "Das wundert mich", sagte
Josie, "die Frau Oberköchin ist doch sehr freundlich zu Ihnen.
Sie behandelt Sie gar nicht wie eine Angestellte. Ich dachte schon,
Sie wären verwandt." "Oh nein", sagte sie, "ich
heiße Therese Berchtold, ich bin aus Pommern." Auch Josie
stellte sich vor. Daraufhin sah sie ihn zum ersten Mal voll an, als
sei er ihr durch die Namensnennung ein wenig fremder geworden. Sie
schwiegen ein Weilchen. Dann sagte sie: "Sie dürfen nicht
glauben, dass ich undankbar bin. Ohne die Frau Oberköchin stünde es
ja mit mir viel schlechter. Ich war früher Küchenmädchen hier im
Hotel und schon in großer Gefahr entlassen zu werden, denn ich
konnte die schwere Arbeit nicht leisten. Man stellt hier sehr große
Ansprüche. Vor einem Monat ist ein Küchenmädchen nur vor
Überanstrengung ohnmächtig geworden und vierzehn Tage im
Krankenhaus gelegen. Und ich bin nicht sehr stark, ich habe früher
viel zu leiden gehabt und bin dadurch in der Entwicklung ein wenig
zurückgeblieben, Sie würden wohl gar nicht sagen, dass ich schon
achtzehn Jahre alt bin. Aber jetzt werde ich schon stärker."
"Der Dienst hier muss wirklich sehr anstrengend sein",
sagte Josie. "Unten habe ich jetzt einen Liftjungen stehend
schlafen gesehen." "Dabei haben es die Liftjungen noch am
besten", sagte sie, "die verdienen ihr schönes Geld an
Trinkgeldern und müssen sich schließlich doch bei weitem nicht so
plagen, wie die Leute in der Küche. Aber da habe ich wirklich einmal
Glück gehabt, die Frau Oberköchin hat einmal ein Mädchen
gebraucht, um die Servietten für ein Bankett herzurichten, hat sie
uns Küchenmädchen herunter geschickt, es gibt hier an fünfzig
solcher Mädchen, ich war gerade bei der Hand und habe sie sehr
zufrieden gestellt, denn im Aufbauen der Servietten habe ich mich
immer ausgekannt. Und so hat sie mich von da an in ihrer Nähe
behalten und allmählich zu ihrer Sekretärin ausgebildet. Dabei habe
ich sehr viel gelernt." "Gibt es denn da so viel zu
schreiben?" fragte Josie. "Ach, sehr viel", antwortete
sie, "das können Sie sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen.
Sie haben doch gesehen, dass ich heute bis halb zwölf gearbeitet
habe und heute ist kein besonderer Tag. Allerdings schreibe ich nicht
immerfort, sondern habe auch viele Besorgungen in der Stadt zu
machen." "Wie heißt denn die Stadt?" fragte Josie.
"Das wissen Sie nicht?" sagte sie: "Ramses." "Ist
es eine große Stadt?" fragte Josie. "Sehr groß",
antwortete sie, "ich gehe nicht gern hin. Aber wollen Sie nicht
wirklich schon schlafen?" "Nein, nein", sagte Josie,
"ich weiß ja noch gar nicht, warum Sie hereingekommen sind."
"Weil ich mit niemandem reden kann. Ich bin nicht wehleidig,
aber wenn wirklich niemand für einen da ist, so ist man schon
glücklich, schließlich von jemandem angehört zu werden. Ich habe
Sie schon unten im Saal gesehen, ich kam gerade um die Frau
Oberköchin zu holen, als sie Sie in die Speisekammern wegführte."
"Das ist ein schrecklicher Saal", sagte Josie. "Ich
merke es schon gar nicht mehr", antwortete sie. "Aber ich
wollte nur sagen, dass ja die Frau Oberköchin so freundlich zu mir
ist, wie es nur meine selige Mutter war. Aber es ist doch ein zu
großer Unterschied in unserer Stellung, als dass ich frei mit ihr
reden könnte. Unter den Küchenmädchen habe ich früher gute
Freundinnen gehabt, aber die sind schon längst nicht mehr hier und
die neuen Mädchen kenne ich kaum. Schließlich kommt es mir manchmal
vor, dass mich meine jetzige Arbeit mehr anstrengt, als die frühere,
dass ich sie aber nicht einmal so gut verrichte, wie die und dass
mich die Frau Oberköchin nur aus Mitleid in meiner Stellung hält.
Schließlich muss man ja wirklich eine bessere Schulbildung gehabt
haben, um Sekretärin zu werden. Es ist eine Sünde, das zu sagen,
aber oft und oft fürchte ich, wahnsinnig zu werden. Um
Gotteswillen", sagte sie plötzlich viel schneller und griff
flüchtig nach Josies Schulter, da er die Hände unter der Decke
hielt, "Sie dürfen aber der Frau Oberköchin kein Wort davon
sagen, sonst bin ich wirklich verloren. Wenn ich ihr jetzt außer den
Umständen, die ich ihr durch meine Arbeit mache, auch noch Leid
bereiten sollte, das wäre wirklich das Höchste." "Es ist
selbstverständlich, dass ich ihr nichts sagen werde",
antwortete Josie. "Dann ist es gut", sagte sie, "und
bleiben Sie hier. Ich wäre froh, wenn Sie hier blieben und wir
könnten, wenn es ihnen recht ist, zusammenhalten. Gleich wie ich Sie
zum ersten Mal gesehn habe, habe ich Vertrauen zu Ihnen gehabt. Und
trotzdem — denken Sie, so schlecht bin ich — habe ich auch Angst
gehabt, die Frau Oberköchin könnte Sie an meiner Stelle zum
Sekretär machen und mich entlassen. Erst wie ich da lange allein
gesessen bin, während Sie unten im Büro waren, habe ich mir die
Sache so zurechtgelegt, dass es sogar sehr gut wäre, wenn Sie meine
Arbeiten übernehmen würden, denn die würden Sie sicher besser
verstehn. Wenn Sie die Besorgungen in der Stadt nicht machen wollten,
könnte ich ja diese Arbeit behalten. Sonst aber wäre ich in der
Küche gewiss viel nützlicher, besonders da ich auch schon etwas
stärker geworden bin." "Die Sache ist schon geordnet",
sagte Josie, "ich werde Liftjunge und Sie bleiben Sekretärin.
Wenn Sie aber der Frau Oberköchin nur die geringste Andeutung von
ihren Plänen machen, verrate ich auch das Übrige, was Sie mir heute
gesagt haben, so leid es mir tun würde." Diese Tonart erregte
Therese so sehr, dass sie sich beim Bett niederwarf und wimmernd das
Gesicht ins Bettzeug drückte. "Ich verrate ja nichts",
sagte Josie, "aber Sie dürfen auch nichts sagen." Nun
konnte er nicht mehr ganz unter seiner Decke versteckt bleiben,
streichelte ein wenig ihren Arm, fand nichts Rechtes, was er ihr
sagen könne und dachte nur, dass hier ein bitteres Leben sei.
Endlich beruhigte sie sich wenigstens so weit, dass sie sich ihres
Weinens schämte, sah Josie dankbar an, redete ihm zu, morgen lange
zu schlafen und versprach, wenn sie Zeit fände, gegen acht Uhr
herauf zu kommen und ihn zu wecken. "Sie wecken ja so
geschickt", sagte Josie. "Ja, einiges kann ich", sagte
sie, fuhr mit der Hand zum Abschied sanft über seine Decke hin und
lief in ihr Zimmer.
Am
nächsten Tage bestand Josie darauf, gleich seinen Dienst anzutreten,
trotzdem ihm die Oberköchin diesen Tag für die Besichtigung von
Ramses freigeben wollte. Aber Josie erklärte offen, dafür werde
sich noch Gelegenheit finden, jetzt sei es für ihn das Wichtigste,
mit der Arbeit anzufangen, denn eine auf ein anderes Ziel gerichtete
Arbeit habe er schon in Europa nutzlos abgebrochen und fange als
Liftjunge in einem Alter an, in dem wenigstens die tüchtigen Jungen
nahe daran seien, in natürlicher Folge eine höhere Arbeit zu
übernehmen. Es sei ganz richtig, dass er als Liftjunge anfange, aber
ebenso richtig sei, dass er sich besonders beeilen müsse. Bei diesen
Umständen würde ihm die Besichtigung der Stadt gar kein Vergnügen
machen. Nicht einmal zu einem kurzen Weg, zu dem ihn Therese
aufforderte, konnte er sich entschließen. Immer schwebte ihm der
Gedanke daran vor Augen, es könne schließlich mit ihm, wenn er
nicht fleißig sei, so weit kommen wie mit Delamarche und Robinson.
Beim
Hotelschneider wurde ihm die Liftjungenuniform anprobiert, die
äußerlich sehr prächtig mit Goldknöpfen und Goldschnüren
ausgestattet war, bei deren Anziehen es Josie aber doch ein wenig
schauderte, denn besonders unter den Achseln war das Röckchen kalt,
hart und dabei unaustrockbar nass von dem Schweiß der Liftjungen,
die es vor ihm getragen hatten. Die Uniform musste auch vor allem
über der Brust eigens für Josie erweitert werden, denn keine der
zehn vorliegenden wollte auch nur beiläufig passen. Trotz dieser
Näharbeit, die hier notwendig war und trotzdem der Meister sehr
peinlich schien — zweimal flog die bereits abgelieferte Uniform aus
seiner Hand in die Werkstatt zurück — war alles in kaum fünf
Minuten erledigt und Josie verließ das Atelier schon als Liftjunge
mit anliegenden Hosen und einem trotz der bestimmten, gegenteiligen
Zusicherung des Meisters sehr beengenden Jäckchen, das immer wieder
zu Atemübungen verlockte, da man sehen wollte, ob das Atmen noch
immer möglich war.
Dann
meldete er sich bei jenem Oberkellner, unter dessen Befehl er stehen
sollte, einem schlanken, schönen Mann mit großer Nase, der wohl
schon in den vierziger Jahren stehen konnte. Er hatte keine Zeit,
sich auch nur auf das geringste Gespräch einzulassen und läutete
bloß einen Liftjungen herbei, zufällig gerade jenen, den Josie
gestern gesehen hatte. Der Oberkellner nannte ihn nur bei seinem
Taufnamen Giacomo, was Josie erst später erfuhr, denn in der
englischen Aussprache war der Name nicht zu erkennen. Dieser Junge
bekam nun den Auftrag, Josie das für den Liftdienst Notwendige zu
zeigen, aber er war so scheu und eilig, dass Josie von ihm, so wenig
auch im Grunde zu zeigen war, kaum dieses Wenige erfahren konnte.
Sicher war Giacomo auch deshalb verärgert, weil er den Liftdienst
offenbar Josies halber verlassen musste und den Zimmermädchen zur
Hilfeleistung zugeteilt war, was ihm nach bestimmten Erfahrungen, die
er aber verschwieg, entehrend vorkam. Enttäuscht war Josie vor allem
dadurch, dass ein Liftjunge mit der Maschinerie des Aufzugs nur
insoferne etwas zu tun hatte, als er ihn durch einen einfachen Druck
auf den Knopf in Bewegung setzte, während für Reparaturen am
Triebwerk derartig ausschließlich die Maschinisten des Hotels
verwendet wurden, dass z.B. Giacomo trotz halbjährigen Dienstes beim
Lift weder das Triebwerk im Keller, noch die Maschinerie im Innern
des Aufzugs mit eigenen Augen gesehen hatte, trotzdem ihn dies, wie
er ausdrücklich sagte, sehr gefreut hätte. Überhaupt war es ein
einförmiger Dienst und wegen der zwölfstündigen Arbeitszeit,
abwechselnd bei Tag und Nacht, so anstrengend, dass er nach Giacomos
Angaben überhaupt nicht auszuhalten war, wenn man nicht minutenweise
im Stehen schlafen konnte. Josie sagte hierzu nichts, aber er begriff
wohl, dass gerade diese Kunst Giacomo die Stelle gekostet hatte.
Sehr
willkommen war es Josie, dass der Aufzug, den er zu besorgen hatte,
nur für die obersten Stockwerke bestimmt war, weshalb er es nicht
mit den anspruchsvollsten reichen Leuten zu tun haben würde.
Allerdings konnte man hier auch nicht so viel lernen wie anderswo und
es war nur für den Anfang gut.
Schon
nach der ersten Woche sah Josie ein, dass er dem Dienst vollständig
gewachsen war. Das Messing seines Aufzugs war am besten geputzt,
keiner der dreißig anderen Aufzüge konnte sich darin vergleichen
und es wäre vielleicht noch leuchtender gewesen, wenn der Junge, der
bei dem gleichen Aufzug diente, auch nur annähernd so fleißig
gewesen wäre und sich nicht in seiner Lässigkeit durch Josies Fleiß
unterstützt gefühlt hätte. Es war ein geborener Amerikaner, namens
Renell, ein eitler Junge mit dunklen Augen und glatten, etwas
gehöhlten Wangen. Er hatte einen eleganten Privatanzug, in dem er an
dienstfreien Abenden leicht parfümiert in die Stadt eilte; hier und
da bat er auch Josie, ihn abends zu vertreten, da er in
Familienangelegenheiten weggehen müsse und es kümmerte ihn wenig,
dass sein Aussehen allen solchen Ausreden widersprach. Trotzdem
konnte ihn Josie gut leiden und hatte es gern, wenn Renell an solchen
Abenden vor dem Ausgehen in seinem Privatanzug unten beim Lift vor
ihm stehen blieb, sich noch ein wenig entschuldigte, während er die
Handschuhe über die Finger zog und dann durch den Korridor abging.
Im Übrigen wollte ihm Josie mit diesen Vertretungen nur eine
Gefälligkeit machen, wie sie ihm gegenüber einem älteren Kollegen
am Anfang selbstverständlich schien, eine dauernde Einrichtung
sollte es nicht werden. Denn ermüdend genug war dieses ewige Fahren
im Lift allerdings und gar in den Abendstunden hatte es fast keine
Unterbrechung.
Bald
lernte Josie auch, die kurzen, tiefen Verbeugungen machen, die man
von den Liftjungen verlangte und das Trinkgeld fing er im Fluge ab.
Es verschwand in seiner Westentasche und niemand hätte nach seinen
Mienen sagen können, ob es groß oder klein war. Vor Damen öffnete
er die Tür mit einer kleinen Beigabe von Galanterie und schwang sich
in den Aufzug langsam hinter ihnen, die in Sorge um ihre Röcke, Hüte
und Behänge zögernder als Männer einzutreten pflegten. Während
der Fahrt stand er, weil dies das unauffälligste war, knapp bei der
Tür mit dem Rücken zu seinen Fahrgästen und hielt den Griff der
Aufzugtüre, um sie im Augenblick der Ankunft plötzlich und doch
nicht etwa erschreckend seitwärts weg zu stoßen. Selten nur klopfte
ihm einer während der Fahrt auf die Schulter, um irgendeine kleine
Auskunft zu bekommen, dann drehte er sich eilig um, als habe er es
erwartet und gab mit lauter Stimme Antwort. Oft gab es trotz der
vielen Aufzüge, besonders nach Schluss der Theater oder nach Ankunft
bestimmter Expresszüge, ein solches Gedränge, dass er, kaum dass
die Gäste oben entlassen waren, wieder hinunterrasen musste, um die
dort Wartenden aufzunehmen. Er hatte auch die Möglichkeit, durch
Ziehen an einem durch den Aufzugskasten hindurchgehenden Drahtseil,
die gewöhnliche Schnelligkeit zu steigern, allerdings war dies durch
die Aufzugsordnung verboten und sollte auch gefährlich sein. Josie
tat es auch niemals, wenn er mit Passagieren fuhr, aber wenn er sie
oben abgesetzt hatte und unten andere warteten, dann kannte er keine
Rücksicht, und arbeitete an dem Seil mit starken, taktmäßigen
Griffen, wie ein Matrose. Er wusste übrigens, dass dies die andern
Liftjungen auch taten und er wollte seine Passagiere nicht an andere
Jungen verlieren. Einzelne Gäste, die längere Zeit im Hotel
wohnten, was hier übrigens ziemlich gebräuchlich war, zeigten hier
und da durch ein Lächeln, dass sie Josie als ihren Liftjungen
erkannten. Josie nahm diese Freundlichkeit mit ernstem Gesichte aber
gerne an. Manchmal, wenn der Verkehr etwas schwächer war, konnte er
auch besondere kleine Aufträge annehmen, z.B. einem Hotelgast, der
sich nicht erst in sein Zimmer bemühen wollte, eine im Zimmer
vergessene Kleinigkeit zu holen, dann flog er in seinem in solchen
Augenblicken ihm besonders vertrauten Aufzug allein hinauf, trat in
das fremde Zimmer, wo meistens sonderbare Dinge, die er nie gesehen
hatte, herum lagen oder auf den Kleiderrechen hingen, fühlte den
charakteristischen Geruch einer fremden Seife, eines Parfüms, eines
Mundwassers und eilte, ohne sich im geringsten aufzuhalten, mit dem
meist trotz undeutlicher Angaben gefundenen Gegenstand wieder zurück.
Oft bedauerte er, größere Aufträge nicht übernehmen zu können,
da hierfür eigene Diener und Botenjungen bestimmt waren, die ihre
Wege auf Fahrrädern, ja sogar Motorrädern besorgten, nur zu
Botengängen aus den Zimmern in die Speise- oder Spielsäle konnte
sich Josie bei günstiger Gelegenheit verwenden lassen.
Wenn
er nach der zwölfstündigen Arbeitszeit drei Tage um sechs Uhr
abends, die nächsten drei Tage um sechs Uhr früh aus der Arbeit
kam, war er so müde, dass er geradewegs, ohne sich um jemanden zu
kümmern, in sein Bett ging. Es lag im gemeinsamen Schlafsaal der
Liftjungen, die Frau Oberköchin, deren Einfluss vielleicht doch
nicht so groß war, wie er am ersten Abend geglaubt hatte, hatte sich
zwar bemüht, ihm ein eigenes Zimmerchen zu verschaffen, und es wäre
ihr wohl auch gelungen, aber da Josie sah, welche Schwierigkeiten es
machte und wie die Oberköchin öfters mit seinem Vorgesetzten, jenem
so beschäftigten Oberkellner, wegen dieser Sache telefonierte,
verzichtete er darauf und überzeugte die Oberköchin von dem Ernst
seines Verzichtes, mit dem Hinweis darauf, dass er von den andern
Jungen wegen eines nicht eigentlich selbst erarbeiteten Vorzugs nicht
beneidet werden wolle.
Ein
ruhiges Schlafzimmer war dieser Schlafsaal allerdings nicht. Denn da
jeder Einzelne die freie Zeit von zwölf Stunden verschiedenartig auf
Essen, Schlaf, Vergnügen und Nebenverdienst verteilte, war im
Schlafsaal immerfort die größte Bewegung. Da schliefen einige und
zogen die Decken über die Ohren, um nichts zu hören; wurde doch
einer geweckt, dann schrie er so wütend über das Geschrei der
andern, dass auch die übrigen noch so guten Schläfer nicht
standhalten konnten. Fast jeder Junge hatte seine Pfeife, es wurde
damit eine Art Luxus getrieben, auch Josie hatte sich eine
angeschafft und fand bald Geschmack an ihr. Nun durfte aber im Dienst
nicht geraucht werden, die Folge dessen war, dass im Schlafsaal
jeder, solange er nicht unbedingt schlief, auch rauchte. Infolge
dessen stand jedes Bett in einer eigenen Rauchwolke und alles in
einem allgemeinen Dunst. Es war unmöglich durchzusetzen, trotzdem
eigentlich die Mehrzahl grundsätzlich zustimmte, dass in der Nacht
nur an einem Ende des Saales das Licht brennen sollte. Wäre dieser
Vorschlag durchgedrungen, dann hätten diejenigen, welche schlafen
wollten, dies im Dunkel der einen Saalhälfte — es war ein großer
Saal mit vierzig Betten — ruhig tun können, während die andern im
beleuchteten Teil Würfel oder Karten hätten spielen und alles
Übrige besorgen können, wozu Licht nötig war. Hätte einer, dessen
Bett in der beleuchteten Saalhälfte stand, schlafen gehen wollen, so
hätte er sich in eines der freien Betten im Dunkel legen können,
denn es standen immer genug Betten frei, und niemand wendete gegen
eine derartige vorübergehende Benützung seines Bettes durch einen
Andern etwas ein. Aber es gab keine Nacht, in der diese Einteilung
befolgt worden wäre. Immer wieder fanden sich z.B. zwei, welche,
nachdem sie das Dunkel zu etwas Schlaf ausgenützt hatten, Lust
bekamen, in ihren Betten auf einem zwischen sie gelegten Brett Karten
zu spielen und natürlich drehten sie eine passende elektrische Lampe
auf, deren stechendes Licht die Schlafenden, wenn sie ihm zugewendet
waren, auffahren ließ. Man wälzte sich zwar noch ein wenig herum,
fand aber schließlich auch nichts Besseres zu tun, als mit dem
gleichfalls geweckten Nachbar auch ein Spiel bei neuer Beleuchtung
vorzunehmen. Und wieder dampften natürlich auch alle Pfeifen. Es gab
allerdings auch einige, die um jeden Preis schlafen wollten — Josie
gehörte meist zu ihnen — und die statt den Kopf aufs Kissen zu
legen, ihn mit dem Kissen bedeckten oder hinein einwickelten, aber
wie wollte man im Schlaf bleiben, wenn der nächste Nachbar in tiefer
Nacht aufstand, um vor dem Dienst noch ein wenig in der Stadt dem
Vergnügen nachzugehn, wenn er, in dem am Kopfende des eigenen Bettes
angebrachten Waschbecken, laut und Wasser sprühend sich wusch, wenn
er die Stiefel nicht nur polternd anzog, sondern stampfend sich
besser in sie hineintreten wollte — fast alle hatten trotz
amerikanischer Stiefelform zu enge Stiefel — um dann schließlich,
da ihm eine Kleinigkeit in seiner Ausstattung fehlte, das Kissen des
Schlafenden zu heben, unter dem man allerdings schon längst geweckt,
nur darauf wartete, auf ihn los zu fahren. Nun waren aber auch alle
Sportsleute und junge, meist kräftige Burschen, die keine
Gelegenheit zu sportlichen Übungen versäumen wollten. Und man
konnte sicher sein, wenn man in der Nacht, mitten aus dem Schlaf
durch großen Lärm geweckt, aufsprang, auf dem Boden neben seinem
Bett zwei Ringkämpfer zu finden, und bei greller Beleuchtung auf
allen Betten in der Runde aufrecht stehende Sachverständige in Hemd
und Unterhosen. Einmal fiel anlässlich eines solchen nächtlichen
Boxkampfes einer der Kämpfer über den schlafenden Josie und das
erste, was Josie beim Öffnen der Augen erblickte, war das Blut, das
dem Jungen aus der Nase rann, und ehe man noch etwas dagegen
unternehmen konnte, das ganze Bettzeug überfloss. Oft verbrachte
Josie fast die ganzen zwölf Stunden mit Versuchen, einige Stunden
Schlaf zu gewinnen, trotzdem es ihn auch sehr lockte, an den
Unterhaltungen der anderen teilzunehmen; aber immer wieder schien es
ihm, dass alle andern in ihrem Leben einen Vorsprung vor ihm hätten,
den er durch fleißigere Arbeit und ein wenig Verzichtsleistung
ausgleichen müsse. Trotzdem ihm also, hauptsächlich seiner Arbeit
wegen am Schlaf sehr gelegen war, beklagte er sich doch weder
gegenüber der Oberköchin noch gegenüber Therese über die
Verhältnisse im Schlafsaal, denn erstens trugen im Ganzen und Großen
alle Jungen schwer daran, ohne sich ernstlich zu beklagen, und
zweitens war die Plage im Schlafsaal ein notwendiger Teil seiner
Aufgabe als Liftjunge, die er ja aus den Händen der Oberköchin
dankbar übernommen hatte.
Einmal
in der Woche hatte er beim Schichtwechsel vierundzwanzig Stunden
frei, die er zum Teil dazu verwendete, bei der Oberköchin ein, zwei
Besuche zu machen und mit Therese, deren kärgliche, freie Zeit er
abpasste, irgendwo in einem Winkel, auf einem Korridor und selten nur
in ihrem Zimmer einige flüchtige Reden auszutauschen. Manchmal
begleitete er sie auch auf ihren Besorgungen in der Stadt, die alle
höchst eilig ausgeführt werden mussten. Dann liefen sie fast, Josie
mit ihrer Tasche in der Hand, zur nächsten Station der
Untergrundbahn, die Fahrt verging im Nu; als werde der Zug ohne jeden
Widerstand nur hingerissen, schon waren sie ihm entstiegen,
klapperten statt auf den Aufzug zu warten, der ihnen zu langsam war,
die Stufen hinauf; die großen Plätze, von denen sternförmig die
Straßen auseinander flogen, erschienen und brachten ein Getümmel in
den von allen Seiten geradlinig strömenden Verkehr, aber Josie und
Therese eilten, eng beisammen, in die verschiedenen Büros,
Waschanstalten, Lagerhäuser und Geschäfte, in denen telefonisch
nicht leicht zu besorgende, im Übrigen nicht besonders
verantwortliche Bestellungen oder Beschwerden auszurichten waren.
Therese merkte bald, dass Josies Hilfe hierbei nicht zu verachten
war, dass sie vielmehr in vieles eine große Beschleunigung brachte.
Niemals musste sie in seiner Begleitung, wie sonst oft, darauf
warten, dass die überbeschäftigten Geschäftsleute sie anhörten.
Er trat an das Pult und klopfte auf es solange mit den Knöcheln, bis
es half, er rief über Menschenmauern sein noch immer etwas
überspitztes, aus hundert Stimmen leicht heraus zu hörendes
Englisch hin, er ging auf die Leute ohne Zögern zu und mochten sie
sich hochmütig in die Tiefe der längsten Geschäftssäle
zurückgezogen haben. Er tat es nicht aus Übermut und würdigte
jeden Widerstand, aber er fühlte sich in einer sichern Stellung, die
ihm Rechte gab, das Hotel Occidental war eine Kundschaft, deren man
nicht spotten durfte und schließlich war Therese, trotz ihrer
geschäftlichen Erfahrung, hilfsbedürftig genug. "Sie sollten
immer mitkommen", sagte sie manchmal glücklich lachend, wenn
sie von einer besonders gut ausgeführten Unternehmung kamen.
Nur
dreimal während der anderthalb Monate, die Josie in Ramses blieb,
war er längere Zeit über ein paar Stunden in Thereses Zimmerchen.
Es war natürlich kleiner als irgendein Zimmer der Oberköchin, die
paar Dinge, welche darin standen, waren gewissermaßen nur um das
Fenster gelagert, aber Josie verstand schon nach seinen Erfahrungen
aus dem Schlafsaal den Wert eines eigenen, verhältnismäßig ruhigen
Zimmers, und wenn er es auch nicht ausdrücklich sagte, so merkte
Therese doch, wie ihm ihr Zimmer gefiel. Sie hatte keine Geheimnisse
vor ihm und es wäre auch nicht gut möglich gewesen, nach ihrem
Besuch damals am ersten Abend noch Geheimnisse vor ihm zu haben. Sie
war ein uneheliches Kind, ihr Vater war Baupolier und hatte die
Mutter und das Kind aus Pommern sich nachkommen lassen, aber als
hätte er damit seine Pflicht erfüllt oder als hätte er andere
Menschen erwartet, als die abgearbeitete Frau und das schwache Kind,
die er an der Landungsstelle in Empfang nahm, war er bald nach ihrer
Ankunft ohne viel Erklärungen nach Kanada ausgewandert und die
Zurückgebliebenen hatten weder einen Brief noch eine sonstige
Nachricht von ihm erhalten, was zum Teil auch nicht zu verwundern
war, denn sie waren in den Massenquartieren des New Yorker Ostens
unauffindbar verloren.
Einmal
erzählte Therese — Josie stand neben ihr beim Fenster und sah auf
die Straße — vom Tode ihrer Mutter. Wie die Mutter und sie an
einem Winterabend — sie konnte damals etwa fünf Jahre alt gewesen
sein — jede mit ihrem Bündel durch die Straßen eilten, um
Schlafstellen zu suchen. Wie die Mutter sie zuerst bei der Hand
führte, es war ein Schneesturm und nicht leicht vorwärts zu kommen,
bis die Hand erlahmte und sie Therese, ohne sich nach ihr umzusehen,
losließ, die sich nun Mühe geben musste, sich selbst an den Röcken
der Mutter festzuhalten. Oft stolperte Therese und fiel sogar, aber
die Mutter war wie in einem Wahn und hielt nicht an. Und diese
Schneestürme in den langen, geraden New Yorker Straßen! Josie hatte
noch keinen Winter in New York mitgemacht. Geht man gegen den Wind
und der dreht sich im Kreise, kann man keinen Augenblick die Augen
öffnen, immerfort zerreibt einem der Wind den Schnee auf dem
Gesicht, man läuft, aber kommt nicht weiter, es ist etwas
Verzweifeltes. Ein Kind ist dabei natürlich gegen Erwachsene im
Vorteil, es läuft unter dem Wind durch und hat noch ein wenig Freude
an allem. So hatte auch damals Therese ihre Mutter nicht ganz
begreifen können und sie war fest davon überzeugt, dass, wenn sie
sich an jenem Abend klüger — sie war eben noch ein so kleines Kind
— zu ihrer Mutter verhalten hätte, diese nicht einen so
jammervollen Tod hätte erleiden müssen. Die Mutter war damals schon
zwei Tage ohne Arbeit gewesen, nicht das kleinste Geldstück war mehr
vorhanden, der Tag war ohne einen Bissen im Freien verbracht worden
und in ihren Bündeln schleppten sie nur unbrauchbare Fetzen mit sich
herum, die sie vielleicht aus Aberglauben sich nicht weg zu werfen
getrauten. Nun war der Mutter für den nächsten Morgen Arbeit bei
einem Bau in Aussicht gestellt worden, aber sie fürchtete, wie sie
Therese den ganzen Tag über zu erklären suchte, die günstige
Gelegenheit nicht ausnützen zu können, denn sie fühlte sich
todmüde, hatte schon am Morgen zum Schrecken der Passanten auf der
Gasse viel Blut gehustet und ihre einzige Sehnsucht war, irgendwo in
die Wärme zu kommen und sich auszuruhen. Und gerade an diesem Abend
war es unmöglich, ein Plätzchen zu bekommen. Dort, wo sie nicht
schon vom Hausbesorger aus dem Torgang gewiesen wurden, in dem man
sich immerhin vom Wetter ein wenig hätte erholen können,
durcheilten sie die engen, eisigen Korridore, durchstiegen die hohen
Stockwerke, umkreisten die schmalen Terrassen der Höfe, klopften
wahllos an Türen, wagten einmal niemanden anzusprechen, baten dann
jeden, der ihnen entgegenkam, und einmal oder zweimal hockte die
Mutter atemlos auf der Stufe einer stillen Treppe nieder, riss
Therese, die sich fast wehrte, an sich und küsste sie mit
schmerzhaftem Anpressen der Lippen. Wenn man nachher weiß, dass das
die letzten Küsse waren, begreift man nicht, dass man und mag man
ein kleiner Wurm gewesen sein, so blind sein konnte, das nicht
einzusehn. In manchen Zimmern, an denen sie vorüber kamen, waren die
Türen geöffnet, um eine erstickende Luft heraus zu lassen, und aus
dem rauchigen Dunst, der wie durch einen Brand verursacht die Zimmer
erfüllte, trat nur die Gestalt irgendjemandes hervor, der im
Türrahmen stand und entweder durch seine stumme Gegenwart oder durch
ein kurzes Wort die Unmöglichkeit eines Unterkommens in dem
betreffenden Zimmer bewies. Therese schien es jetzt im Rückblick,
dass die Mutter nur in den ersten Stunden ernstlich einen Platz
suchte, denn nachdem etwa Mitternacht vorüber war, hat sie wohl
niemanden mehr angesprochen, trotzdem sie mit kleinen Pausen bis zur
Morgendämmerung nicht aufhörte weiter zu jagen und trotzdem in
diesen Häusern, in denen weder Haustore noch Wohnungstüren je
verschlossen werden, immerfort Leben ist und einem Menschen auf
Schritt und Tritt begegnen. Natürlich war es kein Laufen, das sie
rasch weiter brachte, sondern es war nur die äußerste Anstrengung,
deren sie fähig waren, und es konnte in Wirklichkeit ganz gut auch
bloß ein Schleichen sein. Therese wusste auch nicht, ob sie von
Mitternacht bis fünf Uhr früh in zwanzig Häusern oder zwei oder
gar nur in einem Haus gewesen waren. Die Korridore dieser Häuser
sind nach schlauen Plänen der besten Raumausnützung, aber ohne
Rücksicht auf leichte Orientierung angelegt, wie oft waren sie wohl
durch die gleichen Korridore gekommen! Therese hatte wohl in dunkler
Erinnerung, dass sie das Tor eines Hauses, das sie ewig durchsucht
hatten, wieder verließen, aber ebenso schien es ihr, dass sie auf
der Gasse gleich gewendet und wieder in dieses Haus sich gestürzt
hätten. Für das Kind war es natürlich ein unbegreifliches Leid,
einmal von der Mutter gehalten, einmal sich an ihr festhaltend, ohne
ein kleines Wort des Trostes mitgeschleift zu werden, und das Ganze
schien damals für seinen Unverstand nur die Erklärung zu haben,
dass die Mutter von ihm weglaufen wolle. Darum hielt sich Therese
desto fester, selbst wenn die Mutter sie an einer Hand hielt, der
Sicherheit halber auch noch mit der andern Hand an den Röcken der
Mutter, und heulte in Abständen. Sie wollte nicht hier
zurückgelassen werden, zwischen den Leuten, die vor ihnen die
Treppen stampfend emporstiegen, die hinter ihnen, noch nicht zu
sehen, hinter einer Wendung der Treppe herankamen, die in den Gängen
vor einer Tür Streit miteinander hatten und einander gegenseitig in
das Zimmer hinein stießen. Betrunkene wanderten mit dumpfem Gesang
im Haus umher und glücklich schlüpfte noch die Mutter mit Therese
durch solche, sich gerade schließende Gruppen. Gewiss hätten sie
spät in der Nacht, wo man nicht mehr so Acht gab und niemand mehr
unbedingt auf seinem Recht bestand, wenigstens in einen der
allgemeinen, von Unternehmern vermieteten Schlafsäle sich drängen
können, an deren einigen sie vorüber kamen, aber Therese verstand
es nicht, und die Mutter wollte keine Ruhe mehr. Am Morgen, dem
Beginn eines schönen Wintertages, lehnten sie beide an einer
Hausmauer und hatten dort vielleicht ein wenig geschlafen, vielleicht
nur mit offenen Augen herum gestarrt. Es zeigte sich, dass Therese
ihr Bündel verloren hatte und die Mutter machte sich daran, Therese
zur Strafe für die Unachtsamkeit zu schlagen, aber Therese hörte
keinen Schlag und spürte keinen. Sie gingen dann weiter, durch die
sich belebenden Gassen, die Mutter an der Mauer, kamen über eine
Brücke, wo die Mutter mit der Hand den Reif vom Geländer streifte
und gelangten schließlich, damals hatte es Therese hingenommen,
heute verstand sie es nicht, gerade zu jenem Bau, zu dem die Mutter
für jenen Morgen bestellt war. Sie sagte Therese nicht, ob sie
warten oder weggehen solle und Therese nahm dies als Befehl zum
Warten, da dies ihren Wünschen am besten entsprach. Sie setzte sich
also auf einen Ziegelhaufen und sah zu, wie die Mutter ihr Bündel
aufschnürte, einen bunten Fetzen heraus nahm und damit ihr Kopftuch
umband, das sie während der ganzen Nacht getragen hatte. Therese war
zu müde, als dass ihr auch nur der Gedanke gekommen wäre, der
Mutter zu helfen. Ohne sich in der Bauhütte zu melden, wie dies
üblich war, und ohne jemanden zu fragen, stieg die Mutter eine
Leiter hinauf, als wisse sie schon selbst, welche Arbeit ihr
zugeteilt war. Therese wunderte sich darüber, da die Handlangerinnen
gewöhnlich nur unten mit Kalk löschen, mit dem Hinreichen der
Ziegel und mit sonstigen einfachen Arbeiten beschäftigt werden. Sie
dachte daher, die Mutter wolle heute eine besser bezahlte Arbeit
ausführen und lächelte verschlafen zu ihr hinauf. Der Bau war noch
nicht hoch, kaum bis zum Erdgeschoss gediehn, wenn auch schon die
hohen Gerüststangen für den weitern Bau, allerdings noch ohne
Verbindungshölzer, zum blauen Himmel ragten. Oben umging die Mutter
geschickt die Maurer, die Ziegel auf Ziegel legten, und sie
unbegreiflicher Weise nicht zur Rede stellten, sie hielt sich
vorsichtig mit zarter Hand an einem Holzverschlag, der als Geländer
diente, und Therese staunte unten in ihrem Dusel diese
Geschicklichkeit an und glaubte noch einen freundlichen Blick der
Mutter erhalten zu haben. Nun kam aber die Mutter auf ihrem Gang zu
einem kleinen Ziegelhaufen, vor dem das Geländer und wahrscheinlich
auch der Weg aufhörte, aber sie hielt sich nicht daran, ging auf den
Ziegelhaufen los, ihre Geschicklichkeit schien sie verlassen zu
haben, sie stieß den Ziegelhaufen um und fiel über ihn hinweg in
die Tiefe. Viele Ziegel rollten ihr nach und schließlich, eine ganze
Weile später, löste sich irgendwo ein schweres Brett los und
krachte auf sie nieder. Die letzte Erinnerung Thereses an ihre Mutter
war, wie sie mit auseinander gestreckten Beinen da lag, in dem
karierten Rock, der noch aus Pommern stammte, wie jenes auf ihr
liegende, rohe Brett sie fast bedeckte, wie nun die Leute von allen
Seiten zusammen liefen und wie oben vom Bau irgendein Mann zornig
etwas hinunter rief.
Es
war spät geworden, als Therese ihre Erzählung beendet hatte. Sie
hatte ausführlich erzählt, wie es sonst nicht ihre Gewohnheit war,
und gerade bei gleichgültigen Stellen, wie bei der Beschreibung der
Gerüststangen, die jede allein für sich in den Himmel ragten, hatte
sie mit Tränen in den Augen inne halten müssen. Sie wusste jede
Kleinigkeit, die damals vorgefallen war, jetzt nach zehn Jahren ganz
genau, und weil der Anblick ihrer Mutter, oben im halbfertigen
Erdgeschoss, das letzte Andenken an das Leben der Mutter war und sie
es ihrem Freunde gar nicht genug deutlich überantworten konnte,
wollte sie nach dem Schlusse ihrer Erzählung noch einmal darauf
zurückkommen, stockte aber, legte das Gesicht in die Hände und
sagte kein Wort mehr.
Es
gab aber auch lustigere Zeiten in Theresens Zimmer. Gleich bei seinem
ersten Besuch hatte Josie dort ein Lehrbuch der kaufmännischen
Korrespondenz liegen gesehn und auf seine Bitte geborgt erhalten. Es
wurde gleichzeitig besprochen, dass Josie die im Buch enthaltenen
Aufgaben machen und Theresen, die das Buch, so weit es für ihre
kleinen Arbeiten nötig war, schon durchstudiert hatte, zur
Durchsicht vorlegen solle. Nun lag Josie ganze Nächte lang, Watte in
den Ohren, unten auf seinem Bett im Schlafsaal, der Abwechslung
halber in allen möglichen Lagen, las im Buch und kritzelte die
Aufgaben in ein Heftchen mit einer Füllfeder, die ihm die Oberköchin
zur Belohnung dafür geschenkt hatte, dass er für sie ein großes
Inventurverzeichnis sehr praktisch angelegt und rein ausgeführt
hatte. Es gelang ihm, die meisten Störungen der andern Jungen
dadurch zum Guten zu wenden, dass er sich von ihnen immer kleine
Ratschläge in der englischen Sprache geben ließ, bis sie dessen
müde wurden und ihn in Ruhe ließen. Oft staunte er, wie die andern
mit ihrer gegenwärtigen Lage ganz ausgesöhnt waren, ihren
provisorischen Charakter — ältere als zwanzigjährige Liftjungen
wurden nicht geduldet — gar nicht fühlten, die Notwendigkeit einer
Entscheidung über ihren künftigen Beruf nicht einsahen und trotz
Josies Beispiel nichts anderes lasen, als höchstens
Detektivgeschichten, die in schmutzigen Fetzen von Bett zu Bett
gereicht wurden.
Bei
den Zusammenkünften korrigierte nun Therese mit übergroßer
Umständlichkeit, es ergaben sich strittige Ansichten, Josie führte
als Zeugen seinen großen New Yorker Professor an, aber der galt bei
Therese ebenso wenig wie die grammatikalischen Meinungen der
Liftjungen. Sie nahm ihm die Füllfeder aus der Hand und strich die
Stelle, von deren Fehlerhaftigkeit sie überzeugt war, durch, Josie
aber strich in solchen Zweifelsfällen, trotzdem im Allgemeinen keine
höhere Autorität als Therese die Sache zu Gesicht bekommen sollte,
aus Genauigkeit die Striche Theresens wieder durch.
Manchmal
allerdings kam die Oberköchin und entschied dann immer zu Theresens
Gunsten, was noch nicht beweisend war, denn Therese war ihre
Sekretärin. Gleichzeitig aber brachte sie die allgemeine Versöhnung,
denn es wurde Tee gekocht, Gebäck geholt und Josie musste von Europa
erzählen, allerdings mit vielen Unterbrechungen von Seiten der
Oberköchin, die immer wieder fragte und staunte, wodurch sie Josie
zu Bewusstsein brachte, wie vieles sich dort in verhältnismäßig
kurzer Zeit von Grund aus geändert hatte und wie vieles wohl auch
schon seit seiner Abwesenheit anders geworden war und immerfort
anders wurde.
Josie
mochte einen Monat etwa in Ramses gewesen sein, als ihm eines Abends
Renell im Vorübergehen sagte, er sei vor dem Hotel von einem Mann
mit Namen Delamarche angesprochen und nach Josie ausgefragt worden.
Renell habe nun keinen Grund gehabt, etwas zu verschweigen, und habe
der Wahrheit gemäß erzählt, dass Josie Liftjunge sei, jedoch
Aussicht habe, infolge der Protektion der Oberköchin, noch ganz
andere Stellen zu bekommen. Josie merkte, wie vorsichtig Renell von
Delamarche behandelt worden war, der ihn sogar für diesen Abend zu
einem gemeinsamen Nachtmahl eingeladen hatte. "Ich habe nichts
mehr mit Delamarche zu tun", sagte Josie. "Nimm du dich nur
auch vor ihm in Acht!" "Ich?" sagte Renell, streckte
sich und eilte weg. Er war der zierlichste Junge im Hotel und es ging
unter den andern Jungen, ohne dass man den Urheber wusste, das
Gerücht herum, dass er von einer vornehmen Dame, die schon längere
Zeit im Hotel wohnte, im Lift zumindest abgeküsst worden sei. Für
den, der das Gerücht kannte, hatte es unbedingt einen großen Reiz,
jene selbstbewusste Dame, in deren Äußern nicht das Geringste die
Möglichkeit eines solchen Benehmens ahnen ließ, mit ihren ruhigen,
leichten Schritten, zarten Schleiern, streng geschnürter Taille an
sich vorüber gehn zu sehen. Sie wohnte im ersten Stock und Renells
Lift war nicht der ihre, aber man konnte natürlich, wenn die andern
Lifts augenblicklich besetzt waren, solchen Gästen den Eintritt in
einen andern Lift nicht verwehren. So kam es, dass diese Dame hier
und da in Josies und Renells Lift fuhr und tatsächlich immer nur,
wenn Renell Dienst hatte. Es konnte Zufall sein, aber niemand glaubte
daran, und wenn der Lift mit den beiden abfuhr, gab es in der ganzen
Reihe der Liftjungen eine mühsam unterdrückte Unruhe, die schon
sogar zum Einschreiten eines Oberkellners geführt hatte. Sei es nun
dass die Dame, sei es, dass das Gerücht die Ursache war, jedenfalls
hatte sich Renell verändert, war noch bei weitem selbstbewusster
geworden, überließ das Putzen gänzlich Josie, der schon auf die
nächste Gelegenheit einer gründlichen Aussprache hierüber wartete,
und war im Schlafsaal gar nicht mehr zu sehn. Kein anderer war so
vollständig aus der Gemeinschaft der Liftjungen ausgetreten, denn im
Allgemeinen hielten alle zumindest in Dienstfragen streng zusammen
und hatten eine Organisation, die von der Hoteldirektion anerkannt
war.
Alles
dieses ließ sich Josie durch den Kopf gehen, dachte auch an
Delamarche und verrichtete im Übrigen seinen Dienst wie immer. Gegen
Mitternacht hatte er eine kleine Abwechslung, denn Therese, die ihn
öfters mit kleinen Geschenken überraschte, brachte ihm einen großen
Apfel und eine Tafel Schokolade. Sie unterhielten sich ein wenig,
durch die Unterbrechungen, welche die Fahrten mit dem Aufzug
brachten, kaum gestört. Das Gespräch kam auch auf Delamarche, und
Josie merkte, dass er sich eigentlich durch Therese hatte
beeinflussen lassen, wenn er ihn seit einiger Zeit für einen
gefährlichen Menschen hielt; denn so erschien er allerdings Therese,
nach Josies Erzählungen. Josie jedoch hielt ihn im Grunde nur für
einen Lumpen, der durch das Unglück sich hatte verderben lassen, und
mit dem man schon auskommen konnte. Therese widersprach dem aber sehr
lebhaft und forderte Josie in langen Reden das Versprechen ab, kein
Wort mit Delamarche mehr zu reden. Statt dieses Versprechen zu geben,
drängte sie Josie wiederholt schlafen zu gehen, da schon Mitternacht
längst vorüber war, und als sie sich weigerte, drohte er seinen
Posten zu verlassen und sie in ihr Zimmer zu führen. Als sie endlich
bereit war wegzugehen, sagte er: "Warum machst du dir so
unnötige Sorgen, Therese? Für den Fall, dass du dadurch besser
schlafen solltest, verspreche ich dir gerne, dass ich mit Delamarche
nur reden werde, wenn es sich nicht vermeiden lässt." Dann
kamen viele Fahrten, denn der Junge am Nebenlift wurde zu irgendeiner
andern Dienstleistung verwendet, und Josie musste beide Lifts
besorgen. Es gab Gäste, die von Unordnung sprachen und ein Herr, der
eine Dame begleitete, berührte Josie sogar leicht mit dem
Spazierstock, um ihn zur Eile anzutreiben, eine Ermahnung, die recht
unnötig war. Wenn doch wenigstens die Gäste, da sie sahen, dass bei
dem einen Lift kein Junge stand, gleich zu Josies Lift getreten
wären, aber das taten sie nicht, sondern gingen zu dem Nebenlift und
blieben dort, die Hand an der Klinke stehen, oder traten gar selbst
in den Aufzug ein, was nach dem strengsten Paragrafen der
Dienstordnung die Liftjungen um jeden Preis verhüten sollten. So gab
es für Josie ein sehr ermüdendes Hin- und Herlaufen, ohne dass er
aber dabei das Bewusstsein gehabt hätte, seine Pflicht genau zu
erfüllen. Gegen drei Uhr früh wollte überdies ein Packträger, ein
alter Mann, mit dem er ein wenig befreundet war, irgendeine
Hilfeleistung von ihm haben, aber die konnte er nun keinesfalls
leisten, denn gerade standen Gäste vor seinen beiden Lifts, und es
gehörte Geistesgegenwart dazu, sich sofort mit großen Schritten für
eine Gruppe zu entscheiden. Er war daher glücklich, als der andere
Junge wieder antrat, und rief ein paar Worte des Vorwurfs wegen
seines langen Ausbleibens zu ihm hinüber, trotzdem er wahrscheinlich
keine Schuld daran hatte. Nach vier Uhr früh trat ein wenig Ruhe
ein, aber Josie brauchte sie auch schon dringend. Er lehnte schwer am
Geländer, neben seinem Aufzug, aß langsam den Apfel, aus dem schon
nach dem ersten Biss ein starker Duft strömte und sah in einen
Lichtschacht hinunter, der von großen Fenstern der Vorratskammern
umgeben war, hinter denen hängende Massen von Bananen im Dunkel
gerade noch schimmerten.
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