Mittwoch, 6. Dezember 2017

JL Berger präsentiert: Franz Kafka - "Der Verschollene" in der Fassung der modernen Rechtschreibung, IX: Bruneldas Auszug

Flucht/Unternehmen 25
Eines Morgens schob Josie den Krankenwagen, in dem Brunelda saß, aus dem Haustor. Es war nicht mehr so früh, wie er gehofft hatte. Sie waren übereingekommen, die Auswanderung noch in der Nacht zu bewerkstelligen, um in den Gassen kein Aufsehen zu erregen, das bei Tag unvermeidlich gewesen wäre, so bescheiden auch Brunelda mit einem großen, grauen Tuch sich bedecken wollte. Aber der Transport über die Treppe hatte zu lange gedauert, trotz der bereitwilligsten Mithilfe des Studenten, der viel schwächer als Josie war, wie sich bei dieser Gelegenheit herausstellte. Brunelda hielt sich sehr tapfer, seufzte kaum und suchte ihren Trägern die Arbeit auf alle Weise zu erleichtern. Aber es ging doch nicht anders, als dass man sie auf jeder fünften Treppenstufe nieder setzte, um sich selbst und ihr die Zeit zum notwendigsten Ausruhen zu gönnen. Es war ein kühler Morgen, auf den Gängen wehte kalte Luft, wie in Kellern, aber Josie und der Student waren ganz in Schweiß und mussten während der Ruhepausen jeder ein Zipfel von Bruneldas Tuch, das sie ihnen übrigens freundlich reichte, nehmen, um das Gesicht zu trocknen. So kam es, dass sie erst nach zwei Stunden unten anlangten, wo schon vom Abend her das Wägelchen stand. Das Hineinheben Bruneldas gab noch eine gewisse Arbeit, dann aber durfte man das Ganze für gelungen ansehn, denn das Schieben des Wagens musste dank den hohen Rädern nicht schwer sein und es blieb nur die Befürchtung, dass der Wagen unter Brunelda aus den Fugen gehen würde. Diese Gefahr musste man allerdings auf sich nehmen, man konnte nicht einen Ersatzwagen mitführen, zu dessen Bereitstellung und Führung der Student halb im Scherz sich angeboten hatte. Es erfolgte nun die Verabschiedung vom Studenten, die sogar sehr herzlich war. Alle Nichtübereinstimmung zwischen Brunelda und dem Studenten schien vergessen, er entschuldigte sich sogar wegen der alten Beleidigung Bruneldas, die er sich bei ihrer Krankheit hatte zu Schulden kommen lassen, aber Brunelda sagte, alles sei längst vergessen und mehr als gut gemacht. Schließlich bat sie den Studenten, er möge zum Andenken an sie einen Dollar freundlichst annehmen, den sie mühselig aus ihren vielen Röcken hervor suchte. Dieses Geschenk war bei Bruneldas bekanntem Geiz sehr bedeutungsvoll, der Student hatte auch wirklich große Freude davon und warf vor Freude die Münze hoch in die Luft. Dann allerdings musste er sie auf dem Boden suchen und Josie musste ihm helfen, schließlich fand sie auch Josie unter dem Wagen Bruneldas. Der Abschied zwischen dem Studenten und Josie war natürlich viel einfacher, sie reichten einander nur die Hand und sprachen die Überzeugung aus, dass sie einander wohl noch einmal sehen würden und dass dann wenigstens einer von ihnen — der Student behauptete es von Josie, Josie vom Studenten — etwas Rühmenswertes erreicht haben würde, was bisher leider nicht der Fall war. Dann fasste Josie mit gutem Mut den Griff des Wagens und schob ihn aus dem Tor. Der Student sah ihnen solange nach, als sie noch zu sehen waren und winkte mit einem Tuch. Josie nickte oft grüßend zurück, auch Brunelda hätte sich gerne umgewendet, aber solche Bewegungen waren für sie zu anstrengend. Um ihr doch noch einen letzten Abschied zu ermöglichen, führte Josie am Ende der Straße den Wagen in einem Kreis herum, so dass auch Brunelda den Studenten sehen konnte, der diese Gelegenheit ausnützte, um mit dem Tuch besonders eifrig zu winken.
Dann aber sagte Josie, jetzt dürften sie sich keinen Aufenthalt mehr gönnen, der Weg sei lang und sie seien viel später ausgefahren, als es beabsichtigt war. Tatsächlich sah man schon hier und da Fuhrwerke und, wenn auch sehr vereinzelt, Leute, die zur Arbeit gingen. Josie hatte mit seiner Bemerkung nichts weiter sagen wollen, als was er wirklich gesagt hatte, Brunelda aber fasste es in ihrem Zartgefühl anders auf und bedeckte sich ganz und gar mit ihrem grauen Tuch. Josie wendete nichts dagegen ein; der mit einem grauen Tuch bedeckte Handwagen war zwar sehr auffällig, aber unvergleichlich weniger auffällig als die unbedeckte Brunelda gewesen wäre. Er fuhr sehr vorsichtig; ehe er um eine Ecke bog, beobachtete er die nächste Straße, ließ sogar, wenn es nötig schien, den Wagen stehn und ging allein paar Schritte voraus; sah er irgendeine, vielleicht unangenehme Begegnung voraus, so wartete er, bis sie sich vermeiden ließ oder wählte sogar den Weg durch eine ganz andere Straße. Selbst dann kam er, da er alle möglichen Wege vorher genau studiert hatte, niemals in die Gefahr, einen bedeutenden Umweg zu machen. Allerdings erschienen Hindernisse, die zwar zu befürchten gewesen waren, sich aber im Einzelnen nicht hatten vorhersehen lassen. So trat plötzlich in einer Straße, die leicht ansteigend, weit zu überblicken und erfreulicherweise vollständig leer war, ein Vorteil, den Josie durch besondere Eile auszunützen suchte, aus dem dunklen Winkel eines Haustors ein Polizeimann und fragte Josie, was er denn in dem so sorgfältig verdeckten Wagen führe. So streng er aber Josie angesehen hatte, so musste er doch lächeln, als er die Decke lüftete und das erhitzte, ängstliche Gesicht Bruneldas erblickte. "Wie?" sagte er. "Ich dachte, du hättest hier zehn Kartoffelsäcke und jetzt ist es ein einziges Frauenzimmer? Wohin fahrt ihr denn? Wer seid ihr?" Brunelda wagte gar nicht, den Polizeimann anzusehen, sondern blickte nur immer auf Josie, mit dem deutlichen Zweifel, dass selbst er sie nicht werde erretten können. Josie hatte aber schon genug Erfahrungen mit Polizisten, ihm schien das ganze nicht sehr gefährlich. "Zeigen Sie doch, Fräulein", sagte er, "das Schriftstück, das Sie bekommen haben." "Ach ja", sagte Brunelda und begann in einer so hoffnungslosen Weise zu suchen, dass sie wirklich verdächtig erscheinen musste. "Das Fräulein", sagte der Polizeimann mit zweifelloser Ironie, "wird das Schriftstück nicht finden." "Oh ja", sagte Josie ruhig, "sie hat es bestimmt, sie hat es nur verlegt." Er begann nun selbst zu suchen und zog es tatsächlich hinter Bruneldas Rücken hervor. Der Polizeimann sah es nur flüchtig an. "Das ist es also", sagte der Polizeimann lächelnd, "so ein Fräulein ist das Fräulein? Und Sie, Kleiner, besorgen die Vermittlung und den Transport? Wissen Sie wirklich keine bessere Beschäftigung zu finden?" Josie zuckte bloß die Achseln, das waren wieder die bekannten Einmischungen der Polizei. "Na, glückliche Reise", sagte der Polizeimann, als er keine Antwort bekam. In den Worten des Polizeimanns lag wahrscheinlich Verachtung, dafür fuhr auch Josie ohne Gruß weiter, Verachtung der Polizei war besser als ihre Aufmerksamkeit.
Kurz darauf hatte er eine womöglich noch unangenehmere Begegnung. Es machte sich nämlich an ihn ein Mann heran, der einen Wagen mit großen Milchkannen vor sich herschob und äußerst gern erfahren hätte, was unter dem grauen Tuch auf Josies Wagen lag. Es war nicht anzunehmen, dass er den gleichen Weg wie Josie hatte, dennoch aber blieb er ihm zur Seite, so überraschende Wendungen Josie auch machte. Zuerst begnügte er sich mit Ausrufen, wie z.B. "Du musst eine schwere Last haben" oder "Du hast schlecht aufgeladen, oben wird etwas herausfallen." Später aber fragte er geradezu: "Was hast du denn unter dem Tuch?" Josie sagte: "Was kümmert's dich?" Aber da das den Mann noch neugieriger machte, sagte Josie schließlich: "Es sind Äpfel." "So viel Äpfel", sagte der Mann staunend und hörte nicht auf, diesen Ausruf zu wiederholen. "Das ist ja eine ganze Ernte", sagte er dann. "Nun ja", sagte Josie. Aber sei es, dass er Josie nicht glaubte, sei es, dass er ihn ärgern wollte, er ging noch weiter, begann — alles während der Fahrt — die Hand wie zum Scherz nach dem Tuch auszustrecken und wagte es endlich sogar, an dem Tuch zu zupfen. Was musste Brunelda leiden! Aus Rücksicht auf sie wollte sich Josie in keinen Streit mit dem Mann einlassen und fuhr in das nächste, offene Tor ein, als sei dies sein Ziel gewesen. "Hier bin ich zuhause", sagte er, "Dank für die Begleitung." Der Mann blieb erstaunt vor dem Tor stehen und sah Josie nach, der ruhig daranging, wenn es sein musste, den ganzen ersten Hof zu durchqueren. Der Mann konnte nicht mehr zweifeln, aber um seiner Bosheit ein letztes Mal zu genügen, ließ er seinen Wagen stehen, lief Josie auf den Fußspitzen nach und riss so stark an dem Tuch, dass er Bruneldas Gesicht fast entblößt hätte. "Damit deine Äpfel Luft bekommen", sagte er und lief zurück. Auch das nahm Josie noch hin, da es ihn endgültig von dem Mann befreite. Er führte dann den Wagen in einen Hofwinkel, wo einige große leere Kisten standen, in deren Schutz er unter dem Tuch Brunelda einige beruhigende Worte sagen wollte. Aber er musste lange auf sie einreden, denn sie war ganz in Tränen und flehte ihn allen Ernstes an, hier hinter den Kisten den ganzen Tag zu bleiben und erst in der Nacht weiter zu fahren. Vielleicht hätte er allein sie gar nicht davon überzeugen können, wie verfehlt das gewesen wäre, als aber jemand am andern Ende des Kistenhaufens eine leere Kiste unter ungeheuerem, im leeren Hof widerhallenden Lärm zu Boden warf, erschrak sie so, dass sie ohne ein Wort mehr zu wagen, das Tuch über sich zog und wahrscheinlich glückselig war, als Josie kurz entschlossen sofort zu fahren begann.
Die Straßen wurden jetzt zwar immer belebter, aber die Aufmerksamkeit, die der Wagen erregte, war nicht so groß, wie Josie befürchtet hatte. Vielleicht wäre es überhaupt klüger gewesen, eine andere Zeit für den Transport zu wählen. Wenn eine solche Fahrt wieder nötig werden sollte, wollte sich Josie getrauen, sie in der Mittagsstunde auszuführen. Ohne schwerer belästigt worden zu sein, bog er endlich in die schmale, dunkle Gasse ein, in der das Unternehmen Nr. 25 sich befand. Vor der Tür stand der schielende Verwalter mit der Uhr in der Hand. "Bist du immer so unpünktlich?" fragte er. "Es gab verschiedene Hindernisse", sagte Josie. "Die gibt es bekanntlich immer", sagte der Verwalter. "Hier im Haus gelten sie aber nicht. Merk dir das!" Auf solche Reden hörte Josie kaum mehr hin, jeder nützte seine Macht aus und beschimpfte den Niedrigen. War man einmal daran gewöhnt, klang es nicht anders, als das regelmäßige Uhrenschlagen. Wohl aber erschreckte ihn, als er jetzt den Wagen in den Flur schob, der Schmutz, der hier herrschte und den er allerdings erwartet hatte. Es war, wenn man näher zusah, kein fassbarer Schmutz. Der Steinboden des Flurs war fast rein gekehrt, die Malerei der Wände nicht alt, die künstlichen Palmen nur wenig verstaubt, und doch war alles fettig und abstoßend, es war, als wäre von allem ein schlechter Gebrauch gemacht worden und als wäre keine Reinlichkeit mehr im Stande, das wieder gut zu machen. Josie dachte gern, wenn er irgendwohin kam, darüber nach, was hier verbessert werden könne und welche Freude es sein müsste, sofort einzugreifen, ohne Rücksicht auf die vielleicht endlose Arbeit, die es verursachen würde. Hier aber wusste er nicht, was zu tun wäre. Langsam nahm er das Tuch von Brunelda ab. "Willkommen, Fräulein", sagte der Verwalter geziert, es war kein Zweifel, dass Brunelda einen guten Eindruck auf ihn machte. Sobald Brunelda dies merkte, verstand sie das, wie Josie befriedigt sah, gleich auszunützen. Alle Angst der letzten Stunden verschwand.

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