Donnerstag, 7. Dezember 2017

JL Berger präsentiert: Franz Kafka - "Der Verschollene" in der Fassung der modernen Rechtschreibung, X: Das Naturtheater von Oklahama

Theater von Oklahama/Negro
Josie sah an einer Straßenecke ein Plakat mit folgender Aufschrift: "Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für das Theater in Oklahama aufgenommen! Das große Theater von Oklahama ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch, damit ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton!"
Es standen zwar viele Leute vor dem Plakat, aber es schien nicht viel Beifall zu finden. Es gab so viele Plakate, Plakaten glaubte niemand mehr. Und dieses Plakat war noch unwahrscheinlicher als Plakate sonst zu sein pflegen. Vor allem aber hatte es einen großen Fehler, es stand kein Wort von der Bezahlung darin. Wäre sie auch nur ein wenig erwähnenswert gewesen, das Plakat hätte sie gewiss genannt; es hätte das Verlockendste nicht vergessen. Künstler werden wollte niemand, wohl aber wollte jeder für seine Arbeit bezahlt werden.
Für Josie stand aber doch in dem Plakat eine große Verlockung. "Jeder war willkommen", hieß es. Jeder, also auch Josie. Alles, was er bisher getan hatte, war vergessen, niemand wollte ihm daraus einen Vorwurf machen. Er durfte sich zu einer Arbeit melden, die keine Schande war, zu der man vielmehr öffentlich einladen konnte! Und ebenso öffentlich wurde das Versprechen gegeben, dass man auch ihn annehmen würde. Er verlangte nichts Besseres, er wollte endlich den Anfang einer anständigen Laufbahn finden, und hier zeigte er sich vielleicht. Mochte alles Großsprecherische, was auf dem Plakate stand, eine Lüge sein, mochte das große Theater von Oklahama ein kleiner Wanderzirkus sein, es wollte Leute aufnehmen, das war genügend. Josie las das Plakat nicht zum zweiten Male, suchte aber noch einmal den Satz: "Jeder ist willkommen" hervor.
Zuerst dachte er daran, zu Fuß nach Clayton zu gehen, aber das wären drei Stunden angestrengten Marsches gewesen, und er wäre dann möglicherweise gerade zurechtgekommen, um zu erfahren, dass man schon alle verfügbaren Stellen besetzt hätte. Nach dem Plakat war allerdings die Zahl der Aufzunehmenden unbegrenzt, aber so waren immer alle derartigen Stellenangebote abgefasst. Josie sah ein, dass er entweder auf die Stelle verzichten oder fahren musste. Er überrechnete sein Geld, es hätte ohne diese Fahrt für acht Tage gereicht, er schob die kleinen Münzen auf der flachen Hand hin und her. Ein Herr, der ihn beobachtet hatte, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: "Viel Glück zur Fahrt nach Clayton." Josie nickte stumm und rechnete weiter. Aber er entschloss sich bald, teilte das für die Fahrt notwendige Geld ab und lief zur Untergrundbahn.
Als er in Clayton ausstieg, hörte er gleich den Lärm vieler Trompeten. Es war ein wirrer Lärm, die Trompeten waren nicht gegeneinander abgestimmt, es wurde rücksichtslos geblasen. Aber das störte Josie nicht, es bestätigte ihm vielmehr, dass das Theater von Oklahama ein großes Unternehmen war. Aber als er aus dem Stationsgebäude trat und die ganze Anlage vor sich überblickte, sah er, dass alles noch größer war, als er nur irgendwie hatte denken können, und er begriff nicht, wie ein Unternehmen, nur zu dem Zweck um Personal zu erhalten, derartige Aufwendungen machen konnte. Vor dem Eingang zum Rennplatz war ein langes, niedriges Podium aufgebaut, auf dem hunderte Frauen als Engel gekleidet in weißen Tüchern mit großen Flügeln am Rücken auf langen, goldglänzenden Trompeten bliesen. Sie waren aber nicht unmittelbar auf dem Podium, sondern jede stand auf einem Postament, das aber nicht zu sehen war, denn die langen, wehenden Tücher der Engelskleidung hüllten es vollständig ein. Da nun die Postamente sehr hoch, wohl bis zwei Meter hoch waren, sahen die Gestalten der Frauen riesenhaft aus, nur ihre kleinen Köpfe störten ein wenig den Eindruck der Größe, auch ihr gelöstes Haar hing zu kurz und fast lächerlich zwischen den großen Flügeln und an den Seiten hinab. Damit keine Einförmigkeit entstehe, hatte man Postamente in der verschiedensten Größe verwendet, es gab ganz niedrige Frauen, nicht weit über Lebensgröße, aber neben ihnen schwangen sich andere Frauen in solche Höhe hinauf, dass man sie beim leichtesten Windstoß in Gefahr glaubte. Und nun bliesen alle diese Frauen.
Es gab nicht viele Zuhörer. Klein im Vergleich zu den großen Gestalten gingen etwa zehn Burschen vor dem Podium hin und her und blickten zu den Frauen hinauf. Sie zeigten einander diese oder jene, sie schienen aber nicht die Absicht zu haben, einzutreten und sich aufnehmen zu lassen. Nur ein einziger, älterer Mann war zu sehen, er stand ein wenig abseits. Er hatte gleich auch seine Frau und ein Kind im Kinderwagen mitgebracht. Die Frau hielt mit der einen Hand den Wagen, mit der anderen stützte sie sich auf die Schulter des Mannes. Sie bewunderten zwar das Schauspiel, aber man erkannte doch, dass sie enttäuscht waren. Sie hatten wohl auch erwartet, eine Arbeitsgelegenheit zu finden, dieses Trompetenblasen aber beirrte sie.
Josie war in der gleichen Lage. Er trat in die Nähe des Mannes, hörte ein wenig den Trompeten zu und sagte dann: "Hier ist doch die Aufnahmestelle für das Theater von Oklahama?" "Ich glaubte es auch", sagte der Mann, "aber wir warten hier schon seit einer Stunde und hören nichts als die Trompeten. Nirgends ist ein Plakat zu sehn, nirgends ein Ausrufer, nirgends jemand, der Auskunft geben könnte." Josie sagte: "Vielleicht wartet man, bis mehr Leute zusammenkommen. Es sind wirklich noch sehr wenig hier." "Möglich", sagte der Mann und sie schwiegen wieder. Es war auch schwer, im Lärm der Trompeten etwas zu verstehen. Aber dann flüsterte die Frau etwas ihrem Manne zu, er nickte und sie rief gleich Josie an: "Könnten Sie nicht in die Rennbahn hinübergehen und fragen, wo die Aufnahme stattfindet." "Ja", sagte Josie, "aber ich müsste über das Podium gehen, zwischen den Engeln durch." "Ist das so schwierig?" fragte die Frau. Für Josie erschien ihr der Weg leicht, ihren Mann aber wollte sie nicht ausschicken. "Nun ja", sagte Josie, "ich werde gehen." "Sie sind sehr gefällig", sagte die Frau und sie, wie auch ihr Mann drückten Josie die Hand. Die Burschen liefen zusammen, um aus der Nähe zu sehen, wie Josie auf das Podium stieg. Es war, als bliesen die Frauen stärker, um den ersten Stellensuchenden zu begrüßen. Diejenigen aber, an deren Postament Josie gerade vorüber ging, gaben sogar die Trompeten vom Munde und beugten sich zur Seite, um seinen Weg zu verfolgen. Josie sah auf dem andern Ende des Podiums einen unruhig auf und ab gehenden Mann, der offenbar nur auf Leute wartete, um ihnen alle Auskunft zu geben, die man nur wünschen konnte. Josie wollte schon auf ihn zugehen, da hörte er über sich seinen Namen rufen: "Josie", rief ein Engel. Josie sah auf und fing vor freudiger Überraschung zu lachen an; es war Fanny. "Fanny", rief er und grüßte mit der Hand hinauf. "Komm doch her", rief Fanny, "du wirst doch nicht an mir vorüber laufen." Und sie schlug die Tücher auseinander, so dass das Postament und eine schmale Treppe, die hinaufführte, frei gelegt wurde. "Ist es erlaubt hinauf zu gehen?" fragte Josie. "Wer will es uns verbieten, dass wir einander die Hand drücken", rief Fanny und blickte sich erzürnt um, ob nicht etwa schon jemand mit dem Verbote käme. Josie lief aber schon die Treppe hinauf. "Langsamer", rief Fanny, "das Postament und wir beide stürzen um." Aber es geschah nichts, Josie kam glücklich bis zur letzten Stufe. "Sieh nur", sagte Fanny, nachdem sie einander begrüßt hatten, "sieh nur was für eine Arbeit ich bekommen habe." "Es ist ja schön", sagte Josie und sah sich um. Alle Frauen in der Nähe hatten schon Josie bemerkt und kicherten. "Du bist fast die Höchste", sagte Josie und streckte die Hand aus, um die Höhe der andern abzumessen. "Ich habe dich gleich gesehen", sagte Fanny, "als du aus der Station kamst, aber ich bin leider hier in der letzten Reihe, man sieht mich nicht und rufen konnte ich auch nicht. Ich habe zwar besonders laut geblasen, aber du hast mich nicht erkannt." "Ihr blast ja alle schlecht", sagte Josie. "Lass mich einmal blasen." "Aber gewiss", sagte Fanny und reichte ihm die Trompete, "aber verdirb den Chor nicht, sonst entlässt man mich." Josie fing zu blasen an, er hatte gedacht, es sei eine grob gearbeitete Trompete, nur zum Lärm machen bestimmt, aber nun zeigte sich, dass es ein Instrument war, das fast jede Feinheit ausführen konnte. Waren alle Instrumente von gleicher Beschaffenheit, so wurde ein großer Missbrauch mit ihnen getrieben. Josie blies, ohne sich vom Lärm der andern stören zu lassen, mit voller Brust ein Lied, das er irgendwo in einer Kneipe einmal gehört hatte. Er war froh, eine alte Freundin getroffen zu haben, hier vor allen bevorzugt die Trompete blasen zu dürfen und möglicherweise bald eine gute Stellung bekommen zu können. Viele Frauen hörten zu blasen auf und hörten zu; als er plötzlich abbrach, war kaum die Hälfte der Trompeten in Tätigkeit, erst allmählich kam wieder der vollständige Lärm zu Stande. "Du bist ein Künstler", sagte Fanny, als Josie ihr die Trompete wieder reichte. "Lass dich als Trompeter aufnehmen." "Werden denn auch Männer aufgenommen?" fragte Josie. "Ja", sagte Fanny, "wir blasen zwei Stunden. Dann werden wir von Männern, die als Teufel angezogen sind, abgelöst. Die Hälfte bläst, die Hälfte trommelt. Es ist sehr schön, wie überhaupt die ganze Ausstattung sehr kostbar ist. Ist nicht auch unser Kleid sehr schön? Und die Flügel?" Sie sah an sich hinab. "Glaubst du", fragte Josie, "dass auch ich noch eine Stelle bekommen werde?" "Ganz bestimmt", sagte Fanny, "es ist ja das größte Theater der Welt. Wie gut es sich trifft, dass wir wieder beisammen sein werden. Allerdings kommt es darauf an, was für eine Stelle du bekommst. Es wäre nämlich auch möglich, dass wir, auch wenn wir beide hier angestellt sind, uns doch gar nicht sehen." "Ist denn das Ganze wirklich so groß?" fragte Josie. "Es ist das größte Theater der Welt", sagte Fanny nochmals, "ich habe es allerdings selbst noch nicht gesehen, aber manche meiner Kolleginnen, die schon in Oklahama waren, sagen, es sei fast grenzenlos." "Es melden sich aber wenig Leute", sagte Josie und zeigte hinunter auf die Burschen und die kleine Familie. "Das ist wahr", sagte Fanny. "Bedenke aber, dass wir in allen Städten Leute aufnehmen, dass unsere Werbetruppe immerfort reist und dass es noch viele solche Truppen gibt." "Ist denn das Theater noch nicht eröffnet?" fragte Josie. "Oh ja", sagte Fanny, "es ist ein altes Theater, aber es wird immerfort vergrößert." "Ich wundere mich", sagte Josie, "dass sich nicht mehr Leute dazu drängen." "Ja", sagte Fanny, "es ist merkwürdig." "Vielleicht", sagte Josie, "schreckt dieser Aufwand an Engeln und Teufeln mehr ab, als er anzieht." "Wie du das herausfinden kannst", sagte Fanny. "Es ist aber möglich. Sag es unserem Führer, vielleicht kannst du ihm dadurch nützen." "Wo ist er?" fragte Josie. "In der Rennbahn", sagte Fanny, "auf der Schiedsrichtertribüne." "Auch das wundert mich", sagte Josie, "warum geschieht denn die Aufnahme auf der Rennbahn?" "Ja", sagte Fanny, "wir machen überall die größten Vorbereitungen für den größten Andrang. Auf der Rennbahn ist eben viel Platz. Und in allen Ständen, wo sonst die Wetten abgeschlossen werden, sind die Aufnahmskanzleien eingerichtet. Es sollen zweihundert verschiedene Kanzleien sein." "Aber", rief Josie, "hat denn das Theater von Oklahama so große Einkünfte, um derartige Werbetruppen erhalten zu können?" "Was kümmert uns denn das", sagte Fanny, "aber nun, Josie, geh, damit du nichts versäumst, ich muss auch wieder blasen. Versuche auf jeden Fall einen Posten bei dieser Truppe zu bekommen und komm gleich zu mir, es melden. Denke daran, dass ich in großer Unruhe auf die Nachricht warte." Sie drückte ihm die Hand, ermahnte ihn zur Vorsicht beim Hinabsteigen, setzte wieder die Trompete an die Lippen, blies aber nicht früher, ehe sie Josie unten auf dem Boden in Sicherheit sah. Josie legte wieder die Tücher über die Treppe, so wie sie früher gewesen waren, Fanny dankte durch Kopfnicken, und Josie ging, das eben Gehörte nach verschiedenen Richtungen hin überlegend auf den Mann zu, der schon Josie oben bei Fanny gesehen und sich dem Postament genähert hatte, um ihn zu erwarten.
"Sie wollen bei uns eintreten?" fragte der Mann. "Ich bin der Personalchef dieser Truppe und heiße Sie willkommen." Er war ständig, wie aus Höflichkeit, ein wenig vorgebeugt, tänzelte, trotzdem er sich nicht von der Stelle rührte und spielte mit seiner Uhrkette. "Ich danke", sagte Josie, "ich habe das Plakat ihrer Gesellschaft gelesen und melde mich, wie es dort verlangt wird." "Sehr richtig", sagte der Mann anerkennend, "leider verhält sich hier nicht jeder so richtig." Josie dachte daran, dass er jetzt den Mann darauf aufmerksam machen könnte, dass möglicherweise die Lockmittel der Werbetruppe gerade wegen ihrer Großartigkeit versagten. Aber er sagte es nicht, denn dieser Mann war gar nicht der Führer der Truppe, und außerdem wäre es wenig empfehlend gewesen, wenn er, der noch gar nicht aufgenommen war, gleich Verbesserungsvorschläge gemacht hätte. Darum sagte er nur: "Es wartet draußen noch einer, der sich auch anmelden will und der mich nur vorausgeschickt hat. Darf ich ihn jetzt holen?" "Natürlich", sagte der Mann, "je mehr kommen, desto besser." "Er hat auch eine Frau bei sich, und ein kleines Kind im Kinderwagen. Sollen die auch kommen?" "Natürlich", sagte der Mann und schien über Josies Zweifel zu lächeln. "Wir können alle brauchen." "Ich bin gleich wieder zurück", sagte Josie und lief wieder zurück an den Rand des Podiums. Er winkte dem Ehepaar zu und rief, dass alle kommen dürften. Er half den Kinderwagen auf das Podium heben und sie gingen nun gemeinsam. Die Burschen, die das sahen, berieten sich miteinander, stiegen dann langsam, bis zum letzten Augenblick noch zögernd, die Hände in den Taschen auf das Podium hinauf und folgten schließlich Josie und der Familie. Eben kamen aus dem Stationsgebäude der Untergrundbahn neue Passagiere hervor, die angesichts des Podiums mit den Engeln staunend die Arme erhoben. Immerhin schien es, als ob die Bewerbung um Stellen nun doch lebhafter werden solle. Josie war sehr froh, so früh, vielleicht als Erster gekommen zu sein, das Ehepaar war ängstlich und stellte verschiedene Fragen darüber, ob große Anforderungen gestellt würden. Josie sagte, er wisse noch nichts Bestimmtes, er hätte aber wirklich den Eindruck erhalten, dass jeder ohne Ausnahme genommen würde. Er glaube, man dürfe getrost sein.
Der Personalchef kam ihnen schon entgegen, war sehr zufrieden, dass so viele kamen, rieb sich die Hände, grüßte jeden Einzelnen durch eine kleine Verbeugung und stellte sie alle in eine Reihe. Josie war der erste, dann kam das Ehepaar und dann erst die andern. Als sie sich alle aufgestellt hatten, die Burschen drängten sich zuerst durcheinander und es dauerte ein Weilchen, ehe bei ihnen Ruhe eintrat, sagte der Personalchef, während die Trompeten verstummten: "Im Namen des Theaters von Oklahama begrüße ich Sie. Sie sind früh gekommen", es war aber schon bald Mittag, "das Gedränge ist noch nicht groß, die Formalitäten ihrer Aufnahme werden daher bald erledigt sein. Sie haben natürlich alle ihre Legitimationspapiere bei sich." Die Burschen holten gleich irgendwelche Papiere aus den Taschen und schwenkten sie gegen den Personalchef hin, der Ehemann stieß seine Frau an, die unter dem Federbett des Kinderwagens ein ganzes Bündel Papiere hervor zog, Josie allerdings hatte keine. Sollte das ein Hindernis für seine Aufnahme werden? Es war nicht unwahrscheinlich. Immerhin wusste Josie aus Erfahrung, dass sich derartige Vorschriften, wenn man nur ein wenig entschlossen ist, leicht umgehen lassen. Der Personalchef überblickte die Reihe, vergewisserte sich, dass alle Papiere hatten, und da auch Josie die Hand, allerdings die leere Hand, erhob, nahm er an, auch bei ihm sei alles in Ordnung. "Es ist gut", sagte dann der Personalchef und winkte den Burschen ab, die ihre Papiere gleich untersucht haben wollten, "die Papiere werden jetzt in den Aufnahmekanzleien überprüft werden. Wie Sie schon aus unserem Plakat gesehen haben, können wir jeden brauchen. Wir müssen aber natürlich wissen, was für einen Beruf er bisher ausgeübt hat, damit wir ihn an den richtigen Ort stellen können, wo er seine Kenntnisse verwerten kann." "Es ist ja ein Theater", dachte Josie zweifelnd und hörte sehr aufmerksam zu. "Wir haben daher", fuhr der Personalchef fort, "in den Buchmacherbuden Aufnahmekanzleien eingerichtet, je eine Kanzlei für eine Berufsgruppe. Jeder von ihnen wird mir also jetzt seinen Beruf angeben, die Familie gehört im Allgemeinen zur Aufnahmekanzlei des Mannes, ich werde Sie dann zu den Kanzleien führen, wo zuerst ihre Papiere und dann ihre Kenntnisse von Fachmännern überprüft werden sollen — es wird nur eine ganz kurze Prüfung sein, niemand muss sich fürchten. Dort werden Sie dann auch gleich aufgenommen werden und die weitern Weisungen erhalten. Fangen wir also an. Hier, die erste Kanzlei, ist wie schon die Aufschrift sagt, für Ingenieure bestimmt. Ist vielleicht ein Ingenieur unter ihnen?" Josie meldete sich. Er glaubte, gerade weil er keine Papiere hatte, müsse er bestrebt sein, alle Formalitäten möglichst rasch durch zu jagen, eine kleine Berechtigung sich zu melden hatte er auch, denn er hatte ja Ingenieur werden wollen. Aber als die Burschen sahen, dass sich Josie meldete, wurden sie neidisch und meldeten sich auch, alle meldeten sich. Der Personalchef streckte sich in die Höhe und sagte zu den Burschen: "Sie sind Ingenieure?" Da senkten sie alle langsam die Hände, Josie dagegen bestand auf seiner ersten Meldung. Der Personalchef sah ihn zwar ungläubig an, denn Josie schien ihm zu kläglich angezogen und auch zu jung, um Ingenieur sein zu können, aber er sagte doch nichts weiter, vielleicht aus Dankbarkeit, weil Josie ihm, wenigstens seiner Meinung nach, die Bewerber hereingeführt hatte. Er zeigte bloß einladend nach der Kanzlei und Josie ging hin, während sich der Personalchef den andern zuwendete.
In der Kanzlei für Ingenieure saßen an den zwei Seiten eines rechtwinkligen Pultes zwei Herren und verglichen zwei große Verzeichnisse, die vor ihnen lagen. Der eine las vor, der andere strich in seinem Verzeichnis die vorgelesenen Namen an. Als Josie grüßend vor sie hin trat, legten sie sofort die Verzeichnisse fort und nahmen andere große Bücher vor, die sie aufschlugen. Der eine, offenbar nur ein Schreiber, sagte: "Ich bitte um ihre Legitimationspapiere." "Ich habe sie leider nicht bei mir", sagte Josie. "Er hat sie nicht bei sich", sagte der Schreiber zu dem andern Herrn und schrieb die Antwort gleich in sein Buch ein. "Sie sind Ingenieur?" fragte dann der andere, der der Leiter der Kanzlei zu sein schien. "Ich bin es noch nicht", sagte Josie schnell, "aber —". "Genug", sagte der Herr noch viel schneller, "dann gehören Sie nicht zu uns. Ich bitte die Aufschrift zu beachten." Josie biss die Zähne zusammen, der Herr musste es bemerkt haben, denn er sagte: "Es ist kein Grund zur Unruhe. Wir können alle brauchen." Und er winkte einem der Diener, die beschäftigungslos zwischen den Barrieren herum gingen: "Führen Sie diesen Herrn zu der Kanzlei für Leute mit technischen Kenntnissen." Der Diener fasste den Befehl wörtlich auf und fasste Josie bei der Hand. Sie gingen zwischen vielen Buden durch, in einer sah Josie schon einen der Burschen, der bereits aufgenommen war und den Herren dort dankend die Hand drückte. In der Kanzlei, in die Josie jetzt gebracht wurde, war, wie Josie vorausgesehen hatte, der Vorgang ähnlich wie in der ersten Kanzlei. Nur schickte man ihn von hier, da man hörte, dass er eine Mittelschule besucht hatte, in die Kanzlei für gewesene Mittelschüler. Als Josie dort aber sagte, er hätte eine europäische Mittelschule besucht, erklärte man sich auch dort für unzuständig und ließ ihn in die Kanzlei für europäische Mittelschüler führen. Es war eine Bude am äußersten Rand, nicht nur kleiner, sondern sogar niedriger als alle andern. Der Diener, der ihn hierher gebracht hatte, war wütend über die lange Führung und die vielen Abweisungen, an denen seiner Meinung nach Josie allein die Schuld tragen musste. Er wartete nicht mehr die Fragen ab, sondern lief gleich fort. Diese Kanzlei war wohl auch die letzte Zuflucht. Als Josie den Kanzleileiter erblickte, erschrak er fast über die Ähnlichkeit, die dieser mit einem Professor hatte, der wahrscheinlich noch jetzt an der Realschule zuhause unterrichtete. Die Ähnlichkeit bestand allerdings, wie sich gleich herausstellte, nur in Einzelheiten, aber die auf der breiten Nase ruhende Brille, der blonde, wie ein Schaustück gepflegte Vollbart, der sanft gebeugte Rücken und die immer unerwartet hervorbrechende laute Stimme hielten Josie noch einige Zeit in Staunen. Glücklicherweise musste er auch nicht sehr aufmerken, denn es ging hier einfacher zu, als in den andern Kanzleien. Es wurde zwar auch hier eingetragen, dass seine Legitimationspapiere fehlten und der Kanzleileiter nannte es eine unbegreifliche Nachlässigkeit, aber der Schreiber, der hier die Oberhand hatte, ging schnell darüber hinweg und erklärte nach einigen kurzen Fragen des Leiters, während sich dieser gerade zu einer größern Frage anschickte, Josie für aufgenommen. Der Leiter wandte sich mit offenem Mund gegen den Schreiber, dieser aber machte eine abschließende Handbewegung, sagte: "Aufgenommen", und trug auch gleich die Entscheidung ins Buch ein. Offenbar war der Schreiber der Meinung, ein europäischer Mittelschüler zu sein, sei schon etwas so Schmähliches, dass man es jedem, der es von sich behaupte, ohne Weiteres glauben könne. Josie für seinen Teil hatte nichts dagegen einzuwenden, er ging zu ihm hin und wollte ihm danken. Es gab aber noch eine kleine Verzögerung, als man ihn jetzt nach seinem Namen fragte. Er antwortete nicht gleich, er hatte eine Scheu, seinen wirklichen Namen zu nennen und aufschreiben zu lassen. Bis er hier auch nur die kleinste Stelle erhalten und zur Zufriedenheit ausfüllen würde, dann mochte man seinen Namen erfahren, jetzt aber nicht, allzu lang hatte er ihn verschwiegen, als dass er ihn jetzt hätte verraten sollen. Er nannte daher, da ihm im Augenblick kein anderer Name einfiel, nur den Rufnamen aus seinen letzten Stellungen: "Negro". "Negro?" fragte der Leiter, drehte den Kopf und machte eine Grimasse, als hätte Josie jetzt den Höhepunkt der Unglaubwürdigkeit erreicht.
Auch der Schreiber sah Josie eine Weile prüfend an, dann aber wiederholte er "Negro" und schrieb den Namen ein. "Sie haben doch nicht Negro aufgeschrieben", fuhr ihn der Leiter an. "Ja, Negro", sagte der Schreiber ruhig und machte eine Handbewegung, als habe nun der Leiter das Weitere zu veranlassen. Der Leiter bezwang sich auch, stand auf und sagte: "Sie sind also für das Theater von Oklahama —". Aber weiter kam er nicht, er konnte nichts gegen sein Gewissen tun, setzte sich und sagte: "Er heißt nicht Negro." Der Schreiber zog die Augenbrauen in die Höhe, stand nun selbst auf und sagte: "Dann teile also ich Ihnen mit, dass Sie für das Theater in Oklahama aufgenommen sind und dass man Sie jetzt unserm Führer vorstellen wird." Wieder wurde ein Diener gerufen, der Josie zur Schiedsrichtertribüne führte.
Unten an der Treppe sah Josie den Kinderwagen und gerade kam auch das Ehepaar herunter, die Frau mit dem Kind auf dem Arm. "Sind Sie aufgenommen?" fragte der Mann, er war viel lebhafter als früher, auch die Frau sah ihm lachend über die Schulter. Als Josie antwortete, eben sei er aufgenommen worden und gehe zur Vorstellung, sagte der Mann: "Dann gratuliere ich. Auch wir sind aufgenommen worden, es scheint ein gutes Unternehmen zu sein, allerdings kann man sich nicht gleich in alles einfinden, so ist es aber überall." Sie sagten einander noch "Auf Wiedersehn" und Josie stieg zur Tribüne hinauf. Er ging langsam, denn der kleine Raum oben schien von Leuten überfüllt zu sein und er wollte sich nicht eindrängen. Er blieb sogar stehen und überblickte das große Rennfeld, das auf allen Seiten bis an ferne Wälder reichte. Ihn erfasste Lust, einmal ein Pferderennen zu sehn, er hatte in Amerika noch keine Gelegenheit dazu gefunden. In Europa war er einmal als kleines Kind zu einem Rennen mitgenommen worden, konnte sich aber an nichts anderes erinnern, als dass er von der Mutter zwischen vielen Menschen, die nicht auseinander weichen wollten, durchgezogen worden war. Er hatte also eigentlich überhaupt noch kein Rennen gesehn. Hinter ihm fing eine Maschinerie zu schnarren an, er drehte sich um und sah auf dem Apparat, auf dem beim Rennen die Namen der Sieger veröffentlicht werden, jetzt folgende Aufschrift in die Höhe ziehn: "Kaufmann Kalla mit Frau und Kind". Hier wurden also die Namen der Aufgenommenen den Kanzleien mitgeteilt.
Gerade liefen einige Herren lebhaft miteinander sprechend, Bleistifte und Notizblätter in den Händen die Treppe herunter, Josie drückte sich ans Geländer, um sie vorbei zu lassen und stieg, da nun oben Platz geworden war, hinauf. In einer Ecke der mit Holzgeländern versehenen Plattform — das Ganze sah wie das flache Dach eines schmalen Turmes aus — saß, die Arme entlang der Holzgeländer ausgestreckt, ein Herr, dem ein breites, weißes Seidenband mit der Aufschrift: Führer der 10ten Werbetruppe des Theaters von Oklahama quer über die Brust ging. Neben ihm stand auf einem Tischchen ein gewiss auch bei den Rennen verwendeter telefonischer Apparat, durch den der Führer offenbar alle notwendigen Angaben über die einzelnen Bewerber noch vor der Vorstellung erfuhr, denn er stellte an Josie zunächst gar keine Fragen, sondern sagte zu einem Herrn, der mit gekreuzten Beinen, die Hand am Kinn, neben ihm lehnte: "Negro, ein europäischer Mittelschüler." Und als sei damit der sich tief verneigende Josie für ihn erledigt, sah er die Treppe hinunter, ob nicht wieder jemand käme. Aber da niemand kam, hörte er manchmal dem Gespräch, das der andere Herr mit Josie führte zu, blickte aber meistens über das Rennfeld hin und klopfte mit den Fingern auf das Geländer. Diese zarten und doch kräftigen, langen und schnell bewegten Finger lenkten zeitweilig Josies Aufmerksamkeit auf sich, trotzdem ihn der andere Herr genug in Anspruch nahm.
"Sie sind stellungslos gewesen?" fragte dieser Herr zunächst. Diese Frage, sowie fast alle andern Fragen, die er stellte, waren sehr einfach, ganz unverfänglich und die Antworten wurden überdies nicht durch Zwischenfragen nachgeprüft, trotzdem aber wusste ihnen der Herr, durch die Art, wie er sie mit großen Augen aussprach, wie er ihre Wirkung mit vorgebeugtem Oberkörper beobachtete, wie er die Antworten mit auf die Brust gesenktem Kopfe aufnahm und hier und da laut wiederholte, eine besondere Bedeutung zu geben, die man zwar nicht verstand, deren Ahnung aber vorsichtig und befangen machte. Es kam öfters vor, dass es Josie drängte, die gegebene Antwort zu widerrufen und durch eine andere, die vielleicht mehr Beifall finden würde, zu ersetzen, aber er hielt sich doch immer noch zurück, denn er wusste, einen wie schlechten Eindruck ein derartiges Schwanken machen musste und wie überdies die Wirkung der Antworten eine meist unberechenbare war. Überdies aber schien ja seine Aufnahme schon entschieden zu sein, dieses Bewusstsein gab ihm Rückhalt.
Die Frage, ob er stellungslos gewesen sei, beantwortete er mit einem einfachen "Ja". "Wo waren Sie zuletzt angestellt?" fragte dann der Herr. Josie wollte schon antworten, da hob der Herr den Zeigefinger und sagte noch einmal: "Zuletzt!" Josie hatte auch schon die erste Frage richtig verstanden, unwillkürlich schüttelte er die letzte Bemerkung als beirrend mit dem Kopfe ab und antwortete: "In einem Büro." Das war noch die Wahrheit, würde aber der Herr eine nähere Auskunft über die Art des Büros verlangen, so musste er lügen. Aber das tat der Herr nicht, sondern stellte die überaus leicht ganz wahrheitsgemäß zu beantwortende Frage: "Waren Sie dort zufrieden?" "Nein", rief Josie ihm fast in die Rede fallend. Bei einem Seitenblick bemerkte Josie, dass der Führer ein wenig lächelte, Josie bereute die unbedachte Art seiner letzten Antwort, aber es war zu verlockend gewesen, das Nein hinaus zu schreien, denn während seiner ganzen, letzten Dienstzeit hatte er nur den großen Wunsch gehabt, irgendein fremder Dienstgeber möge einmal eintreten und diese Frage an ihn richten. Seine Antwort konnte aber noch einen andern Nachteil bringen, denn der Herr konnte nun fragen, warum er nicht zufrieden gewesen sei. Statt dessen fragte er jedoch: "Zu was für einen Posten fühlen Sie sich geeignet?" Diese Frage enthielt möglicherweise wirklich eine Falle, denn wozu wurde sie gestellt, da Josie doch schon als Schauspieler aufgenommen war; trotzdem er das aber erkannte, konnte er sich dennoch nicht zu der Erklärung überwinden, er fühle sich für den Schauspielerberuf besonders geeignet. Er wich daher der Frage aus und sagte auf die Gefahr hin, trotzig zu erscheinen: "Ich habe das Plakat in der Stadt gelesen und da dort stand, dass man jeden brauchen kann, habe ich mich gemeldet." "Das wissen wir", sagte der Herr, schwieg und zeigte dadurch, dass er auf seiner frühern Frage beharre. "Ich bin als Schauspieler aufgenommen", sagte Josie zögernd, um den Herren die Schwierigkeit, in die ihn die letzte Frage gebracht hatte, begreiflich zu machen. "Das ist richtig", sagte der Herr und verstummte wieder. "Nun", sagte Josie und die ganze Hoffnung, einen Posten gefunden zu haben, kam ins Wanken, "ich weiß nicht, ob ich zum Theater spielen geeignet bin. Ich will mich aber anstrengen und alle Aufträge auszuführen suchen." Der Herr wandte sich dem Leiter zu, beide nickten, Josie schien richtig geantwortet zu haben, er fasste wieder Mut und erwartete aufgerichtet die nächste Frage. Die lautete: "Was wollten Sie denn ursprünglich studieren?" Um die Frage genau zu bestimmen — an der genauen Bestimmung lag dem Herrn immer sehr viel — fügte er hinzu: "In Europa, meine ich." Hierbei nahm er die Hand vom Kinn und machte eine schwache Bewegung, als wolle er damit gleichzeitig andeuten, wie ferne Europa und wie bedeutungslos die dort einmal gefassten Pläne seien. Josie sagte: "Ich wollte Ingenieur werden." Diese Antwort widerstrebte ihm zwar, es war lächerlich, im vollen Bewusstsein seiner bisherigen Laufbahn in Amerika die alte Erinnerung, dass er einmal habe Ingenieur werden wollen, hier wieder aufzufrischen — wäre er es denn selbst in Europa jemals geworden? — aber er wusste gerade keine andere Antwort und sagte deshalb diese. Aber der Herr nahm es ernst, wie er alles ernst nahm. "Nun, Ingenieur", sagte er, "können Sie wohl nicht gleich werden, vielleicht würde es Ihnen aber vorläufig entsprechen, irgendwelche niedrigen technische Arbeiten auszuführen." "Gewiss", sagte Josie, er war sehr zufrieden, er wurde zwar, wenn er das Angebot annahm, aus dem Schauspielerstand unter die technischen Arbeiter geschoben, aber er glaubte tatsächlich, sich bei dieser Arbeit besser bewähren zu können. Übrigens, dies wiederholte er sich immer wieder, es kam nicht so sehr auf die Art der Arbeit an, als vielmehr darauf, sich überhaupt irgendwo dauernd festzuhalten. "Sind Sie denn kräftig genug für schwerere Arbeit?" fragte der Herr. "Oh ja", sagte Josie. Hierauf ließ der Herr Josie näher zu sich herankommen und befühlte seinen Arm. "Es ist ein kräftiger Junge", sagte er dann, indem er Josie am Arm zum Führer hinzog. Der Führer nickte lächelnd, reichte, ohne sich übrigens aus seiner Ruhelage aufzurichten, Josie die Hand und sagte: "Dann sind wir also fertig. In Oklahama wird alles noch überprüft werden. Machen Sie unserer Werbetruppe Ehre!" Josie verbeugte sich zum Abschied, er wollte sich dann auch von dem andern Herren verabschieden, dieser aber spazierte schon, als sei er mit seiner Arbeit vollständig fertig, das Gesicht in die Höhe gerichtet auf der Plattform auf und ab. Während Josie hinunterstieg, wurde zur Seite der Treppe auf der Anzeigetafel die Aufschrift hochgezogen: "Negro, technischer Arbeiter". Da alles hier seinen ordentlichen Gang nahm, hätte es Josie nicht mehr so sehr bedauert, wenn auf der Tafel sein wirklicher Name zu lesen gewesen wäre. Es war alles sogar überaus sorgfältig eingerichtet, denn am Fuß der Treppe wurde Josie schon von einem Diener erwartet, der ihm eine Binde um den Arm festmachte. Als Josie dann den Arm hob, um zu sehn, was auf der Binde stand, war dort der ganz richtige Aufdruck "Technischer Arbeiter".
Wohin Josie nun aber geführt werden mochte, zuerst wollte er doch Fanny melden, wie glücklich alles abgelaufen war. Aber zu seinem Bedauern erfuhr er vom Diener, dass die Engel ebenso wie auch die Teufel bereits nach dem nächsten Bestimmungsort der Werbetruppe abgereist seien, um dort die Ankunft der Truppe für den nächsten Tag bekannt zu machen. "Schade", sagte Josie, es war die erste Enttäuschung, die er in diesem Unternehmen erlebte, "ich hatte eine Bekannte unter den Engeln." "Sie werden sie in Oklahama wiedersehn", sagte der Diener, "nun aber kommen Sie, Sie sind der letzte." Er führte Josie an der hintern Seite des Podiums entlang, auf dem früher die Engel gestanden waren, jetzt waren dort nur noch die leeren Postamente. Josies Annahme aber, dass ohne die Musik der Engel mehr Stellensuchende kommen würden, erwies sich nicht als richtig, denn vor dem Podium standen jetzt überhaupt keine Erwachsenen mehr, nur paar Kinder kämpften um eine lange, weiße Feder, die wahrscheinlich aus einem Engelsflügel gefallen war. Ein Junge hielt sie in die Höhe, während die andern Kinder mit einer Hand seinen Kopf nieder drücken wollten und mit der andern nach der Feder langten.
Josie zeigte auf die Kinder, der Diener aber sagte ohne hinzusehn: "Kommen Sie rascher, es hat sehr lange gedauert, ehe Sie aufgenommen wurden. Man hatte wohl Zweifel?" "Ich weiß nicht", sagte Josie erstaunt, er glaubte es aber nicht.
Immer, selbst bei den klarsten Verhältnissen, fand sich doch irgendjemand, der seinem Mitmenschen Sorgen machen wollte. Aber vor dem freundlichen Anblick der großen Zuschauertribüne, zu der sie jetzt kamen, vergaß Josie bald die Bemerkung des Dieners. Auf dieser Tribüne war nämlich eine ganze, lange Bank mit einem weißen Tuch gedeckt, alle Aufgenommenen saßen mit dem Rücken zur Rennbahn auf der nächsttieferen Bank und wurden bewirtet. Alle waren fröhlich und aufgeregt, gerade als sich Josie unbemerkt als Letzter auf die Bank setzte, standen viele mit erhobenen Gläsern auf und einer hielt einen Trinkspruch auf den Führer der zehnten Werbetruppe, den er den "Vater der Stellungssuchenden" nannte. Jemand machte darauf aufmerksam, dass man ihn auch von hier aus sehen könne und tatsächlich war die Schiedsrichtertribüne mit den zwei Herren in nicht allzu großer Entfernung sichtbar. Nun schwenkten alle ihre Gläser in dieser Richtung, auch Josie fasste das vor ihm stehende Glas, aber so laut man auch rief und so sehr man sich bemerkbar zu machen suchte, auf der Schiedsrichtertribüne deutete nichts darauf hin, dass man die Ovation bemerkte oder wenigstens bemerken wolle. Der Führer lehnte in der Ecke wie früher und der andere Herr stand neben ihm, die Hand am Kinn.
Ein wenig enttäuscht setzte man sich wieder, hier und da drehte sich noch einer nach der Schiedsrichtertribüne um, aber bald beschäftigte man sich nur mit dem reichlichen Essen; großes Geflügel, wie es Josie noch nie gesehen hatte, mit vielen Gabeln in dem knusprig gebratenen Fleisch, wurde herum getragen, Wein wurde immer wieder von den Dienern eingeschenkt — man merkte es kaum, man war über seinen Teller gebückt und in den Becher fiel der Strahl des roten Weines — und wer sich an der allgemeinen Unterhaltung nicht beteiligen wollte, konnte Bilder von Ansichten des Theaters von Oklahama besichtigen, die an einem Ende der Tafel aufgestapelt waren und von Hand zu Hand gehen sollten. Doch kümmerte man sich nicht viel um die Bilder und so geschah es, dass bei Josie, der der Letzte war, nur ein Bild ankam. Nach diesem Bild zu schließen mussten aber alle sehr sehenswert sein. Dieses Bild stellte die Loge des Präsidenten der Vereinigten Staaten dar. Beim ersten Anblick konnte man denken, es sei nicht eine Loge, sondern die Bühne, so weit geschwungen ragte die Brüstung in den freien Raum. Diese Brüstung war ganz aus Gold, in allen ihren Teilen. Zwischen den wie mit der feinsten Schere ausgeschnittenen Säulchen waren nebeneinander Medaillons früherer Präsidenten angebracht, einer hatte eine auffallend gerade Nase, aufgeworfene Lippen und unter gewölbten Lidern starr gesenkte Augen. Rings um die Loge, von den Seiten und von der Höhe, kamen Strahlen von Licht; weißes und doch mildes Licht enthüllte förmlich den Vordergrund der Loge, während ihre Tiefe hinter rotem, unter vielen Tönungen sich faltendem Samt, der an der ganzen Umrandung nieder fiel und durch Schnüre gelenkt wurde, als eine dunkle rötlich schimmernde Leere erschien. Man konnte sich in dieser Loge kaum Menschen vorstellen, so selbstherrlich sah alles aus. Josie vergaß das Essen nicht, sah aber doch oft die Abbildung an, die er neben seinen Teller gelegt hatte.
Schließlich hätte er doch noch sehr gern wenigstens eines der übrigen Bilder angesehn, selbst holen wollte er es sich aber nicht, denn ein Diener hatte die Hand auf den Bildern liegen und die Reihenfolge musste wohl gewahrt werden; er suchte also nur die Tafel zu überblicken und festzustellen, ob sich nicht doch noch ein Bild nähere. Da bemerkte er staunend — zuerst glaubte er es gar nicht — unter den am tiefsten zum Essen gebeugten Gesichtern ein gut bekanntes — Giacomo. Gleich lief er zu ihm hin. "Giacomo", rief er. Dieser, schüchtern wie immer, wenn er überrascht wurde, erhob sich vom Essen, drehte sich in dem schmalen Raum zwischen den Bänken, wischte mit der Hand den Mund, war dann aber sehr froh, Josie zu sehen, bat ihn sich neben ihn zu setzen oder bot sich an zu Josies Platz hinüber zu kommen, sie wollten einander alles erzählen und immer beisammen bleiben. Josie wollte die andern nicht stören, jeder sollte deshalb vorläufig seinen Platz behalten, das Essen werde bald zu Ende sein und dann wollten sie natürlich immer zueinander halten. Aber Josie blieb doch noch bei Giacomo, nur um ihn anzusehn. Was für Erinnerungen an vergangene Zeiten! Wo war die Oberköchin? Was machte Therese? Giacomo selbst hatte sich in seinem Äußern fast gar nicht verändert, die Voraussage der Oberköchin, dass er in einem halben Jahr ein knochiger Amerikaner werden müsse, war nicht eingetroffen, er war zart wie früher, die Wangen eingefallen wie früher, augenblicklich allerdings waren sie gerundet, denn er hatte im Mund einen übergroßen Bissen Fleisch, aus dem er die überflüssigen Knochen langsam heraus zog, um sie dann auf den Teller zu werfen. Wie Josie an seiner Armbinde ablesen konnte, war auch Giacomo nicht als Schauspieler, sondern als Liftjunge aufgenommen, das Theater von Oklahama schien wirklich jeden brauchen zu können.
In den Anblick Giacomos verloren, blieb aber Josie allzu lange von seinem Platze fort, eben wollte er zurückkehren, da kam der Personalchef, stellte sich auf eine der höher gelegenen Bänke, klatschte in die Hände und hielt eine kleine Ansprache, während die meisten aufstanden und die Sitzengebliebenen, die sich nicht vom Essen trennen konnten, durch Stöße der andern schließlich auch zum Aufstehn gezwungen wurden. "Ich will hoffen", sagte er, Josie war inzwischen schon auf den Fußspitzen zu seinem Platz zurück gelaufen, "dass Sie mit unserm Empfangsessen zufrieden waren. Im Allgemeinen lobt man das Essen unserer Werbetruppe. Leider muss ich die Tafel bereits aufheben, denn der Zug, der Sie nach Oklahama bringen soll, fährt in fünf Minuten. Es ist zwar eine lange Reise, Sie werden aber sehn, dass für Sie gut gesorgt ist. Hier stelle ich ihnen den Herrn vor, der ihren Transport führen wird und dem Sie Gehorsam schulden." Ein magerer, kleiner Herr erkletterte die Bank, auf welcher der Personalchef stand, nahm sich kaum Zeit, eine flüchtige Verbeugung zu machen, sondern begann sofort mit ausgestreckten, nervösen Händen zu zeigen, wie sich alle sammeln, ordnen und in Bewegung setzen sollten. Aber zunächst folgte man ihm nicht, denn derjenige aus der Gesellschaft, der schon früher eine Rede gehalten hatte, schlug mit der Hand auf den Tisch und begann eine längere Dankrede, trotzdem — Josie wurde ganz unruhig — eben gesagt worden war, dass der Zug bald abfahre. Aber der Redner achtete nicht einmal darauf, dass auch der Personalchef nicht zuhörte, sondern dem Transportleiter verschiedene Anweisungen gab, er legte seine Rede groß an, zählte alle Gerichte auf, die aufgetragen worden waren, gab über jedes sein Urteil ab und schloss dann zusammenfassend mit dem Ausruf: "Geehrte Herren, so gewinnt man uns." Alle außer den Angesprochenen lachten, aber es war doch mehr Wahrheit als Scherz.
Diese Rede büßte man überdies damit, dass jetzt der Weg zur Bahn im Laufschritt gemacht werden musste. Das war aber auch nicht sehr schwer, denn — Josie bemerkte es erst jetzt — niemand trug ein Gepäckstück — das einzige Gepäckstück war eigentlich der Kinderwagen, der jetzt an der Spitze der Truppe vom Vater gelenkt wie haltlos auf und nieder sprang. Was für besitzlose, verdächtige Leute waren hier zusammengekommen und wurden doch so gut empfangen und behütet! Und dem Transportleiter mussten sie geradezu ans Herz gelegt sein. Bald fasste er selbst mit einer Hand die Lenkstange des Kinderwagens und erhob die andere um die Truppe aufzumuntern, bald war er hinter der letzten Reihe, die er antrieb, bald lief er an den Seiten entlang, fasste einzelne Langsamere aus der Mitte ins Auge und suchte ihnen mit schwingenden Armen darzustellen, wie sie laufen müssten.
Als sie auf dem Bahnhof ankamen, stand der Zug schon bereit. Die Leute auf dem Bahnhof zeigten einander die Truppe, man hörte Ausrufe wie "Alle diese gehören zum Theater von Oklahama", das Theater schien viel bekannter zu sein, als Josie angenommen hatte, allerdings hatte er sich um Theaterdinge niemals gekümmert. Ein ganzer Waggon war eigens für die Truppe bestimmt, der Transportleiter drängte zum Einsteigen mehr als der Schaffner. Er sah zuerst in jede einzelne Abteilung, ordnete hier und da etwas und erst dann stieg er selbst ein. Josie hatte zufällig einen Fensterplatz bekommen und Giacomo neben sich gezogen. So saßen sie aneinander gedrängt und freuten sich im Grunde beide auf die Fahrt; so sorgenlos hatten sie in Amerika noch keine Reise gemacht. Als der Zug zu fahren begann, winkten sie mit den Händen aus dem Fenster, während die Burschen ihnen gegenüber einander anstießen und es lächerlich fanden.

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