Theater
von Oklahama/Negro
Josie
sah an einer Straßenecke ein Plakat mit folgender Aufschrift: "Auf
dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis
Mitternacht Personal für das Theater in Oklahama aufgenommen! Das
große Theater von Oklahama ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal!
Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an
seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer
Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden
brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden
hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch, damit
ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf wird alles
geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht
glaubt! Auf nach Clayton!"
Es
standen zwar viele Leute vor dem Plakat, aber es schien nicht viel
Beifall zu finden. Es gab so viele Plakate, Plakaten glaubte niemand
mehr. Und dieses Plakat war noch unwahrscheinlicher als Plakate sonst
zu sein pflegen. Vor allem aber hatte es einen großen Fehler, es
stand kein Wort von der Bezahlung darin. Wäre sie auch nur ein wenig
erwähnenswert gewesen, das Plakat hätte sie gewiss genannt; es
hätte das Verlockendste nicht vergessen. Künstler werden wollte
niemand, wohl aber wollte jeder für seine Arbeit bezahlt werden.
Für
Josie stand aber doch in dem Plakat eine große Verlockung. "Jeder
war willkommen", hieß es. Jeder, also auch Josie. Alles, was er
bisher getan hatte, war vergessen, niemand wollte ihm daraus einen
Vorwurf machen. Er durfte sich zu einer Arbeit melden, die keine
Schande war, zu der man vielmehr öffentlich einladen konnte! Und
ebenso öffentlich wurde das Versprechen gegeben, dass man auch ihn
annehmen würde. Er verlangte nichts Besseres, er wollte endlich den
Anfang einer anständigen Laufbahn finden, und hier zeigte er sich
vielleicht. Mochte alles Großsprecherische, was auf dem Plakate
stand, eine Lüge sein, mochte das große Theater von Oklahama ein
kleiner Wanderzirkus sein, es wollte Leute aufnehmen, das war
genügend. Josie las das Plakat nicht zum zweiten Male, suchte aber
noch einmal den Satz: "Jeder ist willkommen" hervor.
Zuerst
dachte er daran, zu Fuß nach Clayton zu gehen, aber das wären drei
Stunden angestrengten Marsches gewesen, und er wäre dann
möglicherweise gerade zurechtgekommen, um zu erfahren, dass man
schon alle verfügbaren Stellen besetzt hätte. Nach dem Plakat war
allerdings die Zahl der Aufzunehmenden unbegrenzt, aber so waren
immer alle derartigen Stellenangebote abgefasst. Josie sah ein, dass
er entweder auf die Stelle verzichten oder fahren musste. Er
überrechnete sein Geld, es hätte ohne diese Fahrt für acht Tage
gereicht, er schob die kleinen Münzen auf der flachen Hand hin und
her. Ein Herr, der ihn beobachtet hatte, klopfte ihm auf die Schulter
und sagte: "Viel Glück zur Fahrt nach Clayton." Josie
nickte stumm und rechnete weiter. Aber er entschloss sich bald,
teilte das für die Fahrt notwendige Geld ab und lief zur
Untergrundbahn.
Als
er in Clayton ausstieg, hörte er gleich den Lärm vieler Trompeten.
Es war ein wirrer Lärm, die Trompeten waren nicht gegeneinander
abgestimmt, es wurde rücksichtslos geblasen. Aber das störte Josie
nicht, es bestätigte ihm vielmehr, dass das Theater von Oklahama ein
großes Unternehmen war. Aber als er aus dem Stationsgebäude trat
und die ganze Anlage vor sich überblickte, sah er, dass alles noch
größer war, als er nur irgendwie hatte denken können, und er
begriff nicht, wie ein Unternehmen, nur zu dem Zweck um Personal zu
erhalten, derartige Aufwendungen machen konnte. Vor dem Eingang zum
Rennplatz war ein langes, niedriges Podium aufgebaut, auf dem
hunderte Frauen als Engel gekleidet in weißen Tüchern mit großen
Flügeln am Rücken auf langen, goldglänzenden Trompeten bliesen.
Sie waren aber nicht unmittelbar auf dem Podium, sondern jede stand
auf einem Postament, das aber nicht zu sehen war, denn die langen,
wehenden Tücher der Engelskleidung hüllten es vollständig ein. Da
nun die Postamente sehr hoch, wohl bis zwei Meter hoch waren, sahen
die Gestalten der Frauen riesenhaft aus, nur ihre kleinen Köpfe
störten ein wenig den Eindruck der Größe, auch ihr gelöstes Haar
hing zu kurz und fast lächerlich zwischen den großen Flügeln und
an den Seiten hinab. Damit keine Einförmigkeit entstehe, hatte man
Postamente in der verschiedensten Größe verwendet, es gab ganz
niedrige Frauen, nicht weit über Lebensgröße, aber neben ihnen
schwangen sich andere Frauen in solche Höhe hinauf, dass man sie
beim leichtesten Windstoß in Gefahr glaubte. Und nun bliesen alle
diese Frauen.
Es
gab nicht viele Zuhörer. Klein im Vergleich zu den großen Gestalten
gingen etwa zehn Burschen vor dem Podium hin und her und blickten zu
den Frauen hinauf. Sie zeigten einander diese oder jene, sie schienen
aber nicht die Absicht zu haben, einzutreten und sich aufnehmen zu
lassen. Nur ein einziger, älterer Mann war zu sehen, er stand ein
wenig abseits. Er hatte gleich auch seine Frau und ein Kind im
Kinderwagen mitgebracht. Die Frau hielt mit der einen Hand den Wagen,
mit der anderen stützte sie sich auf die Schulter des Mannes. Sie
bewunderten zwar das Schauspiel, aber man erkannte doch, dass sie
enttäuscht waren. Sie hatten wohl auch erwartet, eine
Arbeitsgelegenheit zu finden, dieses Trompetenblasen aber beirrte
sie.
Josie
war in der gleichen Lage. Er trat in die Nähe des Mannes, hörte ein
wenig den Trompeten zu und sagte dann: "Hier ist doch die
Aufnahmestelle für das Theater von Oklahama?" "Ich glaubte
es auch", sagte der Mann, "aber wir warten hier schon seit
einer Stunde und hören nichts als die Trompeten. Nirgends ist ein
Plakat zu sehn, nirgends ein Ausrufer, nirgends jemand, der Auskunft
geben könnte." Josie sagte: "Vielleicht wartet man, bis
mehr Leute zusammenkommen. Es sind wirklich noch sehr wenig hier."
"Möglich", sagte der Mann und sie schwiegen wieder. Es war
auch schwer, im Lärm der Trompeten etwas zu verstehen. Aber dann
flüsterte die Frau etwas ihrem Manne zu, er nickte und sie rief
gleich Josie an: "Könnten Sie nicht in die Rennbahn
hinübergehen und fragen, wo die Aufnahme stattfindet." "Ja",
sagte Josie, "aber ich müsste über das Podium gehen, zwischen
den Engeln durch." "Ist das so schwierig?" fragte die
Frau. Für Josie erschien ihr der Weg leicht, ihren Mann aber wollte
sie nicht ausschicken. "Nun ja", sagte Josie, "ich
werde gehen." "Sie sind sehr gefällig", sagte die
Frau und sie, wie auch ihr Mann drückten Josie die Hand. Die
Burschen liefen zusammen, um aus der Nähe zu sehen, wie Josie auf
das Podium stieg. Es war, als bliesen die Frauen stärker, um den
ersten Stellensuchenden zu begrüßen. Diejenigen aber, an deren
Postament Josie gerade vorüber ging, gaben sogar die Trompeten vom
Munde und beugten sich zur Seite, um seinen Weg zu verfolgen. Josie
sah auf dem andern Ende des Podiums einen unruhig auf und ab gehenden
Mann, der offenbar nur auf Leute wartete, um ihnen alle Auskunft zu
geben, die man nur wünschen konnte. Josie wollte schon auf ihn
zugehen, da hörte er über sich seinen Namen rufen: "Josie",
rief ein Engel. Josie sah auf und fing vor freudiger Überraschung zu
lachen an; es war Fanny. "Fanny", rief er und grüßte mit
der Hand hinauf. "Komm doch her", rief Fanny, "du
wirst doch nicht an mir vorüber laufen." Und sie schlug die
Tücher auseinander, so dass das Postament und eine schmale Treppe,
die hinaufführte, frei gelegt wurde. "Ist es erlaubt hinauf zu
gehen?" fragte Josie. "Wer will es uns verbieten, dass wir
einander die Hand drücken", rief Fanny und blickte sich erzürnt
um, ob nicht etwa schon jemand mit dem Verbote käme. Josie lief aber
schon die Treppe hinauf. "Langsamer", rief Fanny, "das
Postament und wir beide stürzen um." Aber es geschah nichts,
Josie kam glücklich bis zur letzten Stufe. "Sieh nur",
sagte Fanny, nachdem sie einander begrüßt hatten, "sieh nur
was für eine Arbeit ich bekommen habe." "Es ist ja schön",
sagte Josie und sah sich um. Alle Frauen in der Nähe hatten schon
Josie bemerkt und kicherten. "Du bist fast die Höchste",
sagte Josie und streckte die Hand aus, um die Höhe der andern
abzumessen. "Ich habe dich gleich gesehen", sagte Fanny,
"als du aus der Station kamst, aber ich bin leider hier in der
letzten Reihe, man sieht mich nicht und rufen konnte ich auch nicht.
Ich habe zwar besonders laut geblasen, aber du hast mich nicht
erkannt." "Ihr blast ja alle schlecht", sagte Josie.
"Lass mich einmal blasen." "Aber gewiss", sagte
Fanny und reichte ihm die Trompete, "aber verdirb den Chor
nicht, sonst entlässt man mich." Josie fing zu blasen an, er
hatte gedacht, es sei eine grob gearbeitete Trompete, nur zum Lärm
machen bestimmt, aber nun zeigte sich, dass es ein Instrument war,
das fast jede Feinheit ausführen konnte. Waren alle Instrumente von
gleicher Beschaffenheit, so wurde ein großer Missbrauch mit ihnen
getrieben. Josie blies, ohne sich vom Lärm der andern stören zu
lassen, mit voller Brust ein Lied, das er irgendwo in einer Kneipe
einmal gehört hatte. Er war froh, eine alte Freundin getroffen zu
haben, hier vor allen bevorzugt die Trompete blasen zu dürfen und
möglicherweise bald eine gute Stellung bekommen zu können. Viele
Frauen hörten zu blasen auf und hörten zu; als er plötzlich
abbrach, war kaum die Hälfte der Trompeten in Tätigkeit, erst
allmählich kam wieder der vollständige Lärm zu Stande. "Du
bist ein Künstler", sagte Fanny, als Josie ihr die Trompete
wieder reichte. "Lass dich als Trompeter aufnehmen."
"Werden denn auch Männer aufgenommen?" fragte Josie. "Ja",
sagte Fanny, "wir blasen zwei Stunden. Dann werden wir von
Männern, die als Teufel angezogen sind, abgelöst. Die Hälfte
bläst, die Hälfte trommelt. Es ist sehr schön, wie überhaupt die
ganze Ausstattung sehr kostbar ist. Ist nicht auch unser Kleid sehr
schön? Und die Flügel?" Sie sah an sich hinab. "Glaubst
du", fragte Josie, "dass auch ich noch eine Stelle bekommen
werde?" "Ganz bestimmt", sagte Fanny, "es ist ja
das größte Theater der Welt. Wie gut es sich trifft, dass wir
wieder beisammen sein werden. Allerdings kommt es darauf an, was für
eine Stelle du bekommst. Es wäre nämlich auch möglich, dass wir,
auch wenn wir beide hier angestellt sind, uns doch gar nicht sehen."
"Ist denn das Ganze wirklich so groß?" fragte Josie. "Es
ist das größte Theater der Welt", sagte Fanny nochmals, "ich
habe es allerdings selbst noch nicht gesehen, aber manche meiner
Kolleginnen, die schon in Oklahama waren, sagen, es sei fast
grenzenlos." "Es melden sich aber wenig Leute", sagte
Josie und zeigte hinunter auf die Burschen und die kleine Familie.
"Das ist wahr", sagte Fanny. "Bedenke aber, dass wir
in allen Städten Leute aufnehmen, dass unsere Werbetruppe immerfort
reist und dass es noch viele solche Truppen gibt." "Ist
denn das Theater noch nicht eröffnet?" fragte Josie. "Oh
ja", sagte Fanny, "es ist ein altes Theater, aber es wird
immerfort vergrößert." "Ich wundere mich", sagte
Josie, "dass sich nicht mehr Leute dazu drängen." "Ja",
sagte Fanny, "es ist merkwürdig." "Vielleicht",
sagte Josie, "schreckt dieser Aufwand an Engeln und Teufeln mehr
ab, als er anzieht." "Wie du das herausfinden kannst",
sagte Fanny. "Es ist aber möglich. Sag es unserem Führer,
vielleicht kannst du ihm dadurch nützen." "Wo ist er?"
fragte Josie. "In der Rennbahn", sagte Fanny, "auf der
Schiedsrichtertribüne." "Auch das wundert mich",
sagte Josie, "warum geschieht denn die Aufnahme auf der
Rennbahn?" "Ja", sagte Fanny, "wir machen überall
die größten Vorbereitungen für den größten Andrang. Auf der
Rennbahn ist eben viel Platz. Und in allen Ständen, wo sonst die
Wetten abgeschlossen werden, sind die Aufnahmskanzleien eingerichtet.
Es sollen zweihundert verschiedene Kanzleien sein." "Aber",
rief Josie, "hat denn das Theater von Oklahama so große
Einkünfte, um derartige Werbetruppen erhalten zu können?" "Was
kümmert uns denn das", sagte Fanny, "aber nun, Josie, geh,
damit du nichts versäumst, ich muss auch wieder blasen. Versuche auf
jeden Fall einen Posten bei dieser Truppe zu bekommen und komm gleich
zu mir, es melden. Denke daran, dass ich in großer Unruhe auf die
Nachricht warte." Sie drückte ihm die Hand, ermahnte ihn zur
Vorsicht beim Hinabsteigen, setzte wieder die Trompete an die Lippen,
blies aber nicht früher, ehe sie Josie unten auf dem Boden in
Sicherheit sah. Josie legte wieder die Tücher über die Treppe, so
wie sie früher gewesen waren, Fanny dankte durch Kopfnicken, und
Josie ging, das eben Gehörte nach verschiedenen Richtungen hin
überlegend auf den Mann zu, der schon Josie oben bei Fanny gesehen
und sich dem Postament genähert hatte, um ihn zu erwarten.
"Sie
wollen bei uns eintreten?" fragte der Mann. "Ich bin der
Personalchef dieser Truppe und heiße Sie willkommen." Er war
ständig, wie aus Höflichkeit, ein wenig vorgebeugt, tänzelte,
trotzdem er sich nicht von der Stelle rührte und spielte mit seiner
Uhrkette. "Ich danke", sagte Josie, "ich habe das
Plakat ihrer Gesellschaft gelesen und melde mich, wie es dort
verlangt wird." "Sehr richtig", sagte der Mann
anerkennend, "leider verhält sich hier nicht jeder so richtig."
Josie dachte daran, dass er jetzt den Mann darauf aufmerksam machen
könnte, dass möglicherweise die Lockmittel der Werbetruppe gerade
wegen ihrer Großartigkeit versagten. Aber er sagte es nicht, denn
dieser Mann war gar nicht der Führer der Truppe, und außerdem wäre
es wenig empfehlend gewesen, wenn er, der noch gar nicht aufgenommen
war, gleich Verbesserungsvorschläge gemacht hätte. Darum sagte er
nur: "Es wartet draußen noch einer, der sich auch anmelden will
und der mich nur vorausgeschickt hat. Darf ich ihn jetzt holen?"
"Natürlich", sagte der Mann, "je mehr kommen, desto
besser." "Er hat auch eine Frau bei sich, und ein kleines
Kind im Kinderwagen. Sollen die auch kommen?" "Natürlich",
sagte der Mann und schien über Josies Zweifel zu lächeln. "Wir
können alle brauchen." "Ich bin gleich wieder zurück",
sagte Josie und lief wieder zurück an den Rand des Podiums. Er
winkte dem Ehepaar zu und rief, dass alle kommen dürften. Er half
den Kinderwagen auf das Podium heben und sie gingen nun gemeinsam.
Die Burschen, die das sahen, berieten sich miteinander, stiegen dann
langsam, bis zum letzten Augenblick noch zögernd, die Hände in den
Taschen auf das Podium hinauf und folgten schließlich Josie und der
Familie. Eben kamen aus dem Stationsgebäude der Untergrundbahn neue
Passagiere hervor, die angesichts des Podiums mit den Engeln staunend
die Arme erhoben. Immerhin schien es, als ob die Bewerbung um Stellen
nun doch lebhafter werden solle. Josie war sehr froh, so früh,
vielleicht als Erster gekommen zu sein, das Ehepaar war ängstlich
und stellte verschiedene Fragen darüber, ob große Anforderungen
gestellt würden. Josie sagte, er wisse noch nichts Bestimmtes, er
hätte aber wirklich den Eindruck erhalten, dass jeder ohne Ausnahme
genommen würde. Er glaube, man dürfe getrost sein.
Der
Personalchef kam ihnen schon entgegen, war sehr zufrieden, dass so
viele kamen, rieb sich die Hände, grüßte jeden Einzelnen durch
eine kleine Verbeugung und stellte sie alle in eine Reihe. Josie war
der erste, dann kam das Ehepaar und dann erst die andern. Als sie
sich alle aufgestellt hatten, die Burschen drängten sich zuerst
durcheinander und es dauerte ein Weilchen, ehe bei ihnen Ruhe
eintrat, sagte der Personalchef, während die Trompeten verstummten:
"Im Namen des Theaters von Oklahama begrüße ich Sie. Sie sind
früh gekommen", es war aber schon bald Mittag, "das
Gedränge ist noch nicht groß, die Formalitäten ihrer Aufnahme
werden daher bald erledigt sein. Sie haben natürlich alle ihre
Legitimationspapiere bei sich." Die Burschen holten gleich
irgendwelche Papiere aus den Taschen und schwenkten sie gegen den
Personalchef hin, der Ehemann stieß seine Frau an, die unter dem
Federbett des Kinderwagens ein ganzes Bündel Papiere hervor zog,
Josie allerdings hatte keine. Sollte das ein Hindernis für seine
Aufnahme werden? Es war nicht unwahrscheinlich. Immerhin wusste Josie
aus Erfahrung, dass sich derartige Vorschriften, wenn man nur ein
wenig entschlossen ist, leicht umgehen lassen. Der Personalchef
überblickte die Reihe, vergewisserte sich, dass alle Papiere hatten,
und da auch Josie die Hand, allerdings die leere Hand, erhob, nahm er
an, auch bei ihm sei alles in Ordnung. "Es ist gut", sagte
dann der Personalchef und winkte den Burschen ab, die ihre Papiere
gleich untersucht haben wollten, "die Papiere werden jetzt in
den Aufnahmekanzleien überprüft werden. Wie Sie schon aus unserem
Plakat gesehen haben, können wir jeden brauchen. Wir müssen aber
natürlich wissen, was für einen Beruf er bisher ausgeübt hat,
damit wir ihn an den richtigen Ort stellen können, wo er seine
Kenntnisse verwerten kann." "Es ist ja ein Theater",
dachte Josie zweifelnd und hörte sehr aufmerksam zu. "Wir haben
daher", fuhr der Personalchef fort, "in den Buchmacherbuden
Aufnahmekanzleien eingerichtet, je eine Kanzlei für eine
Berufsgruppe. Jeder von ihnen wird mir also jetzt seinen Beruf
angeben, die Familie gehört im Allgemeinen zur Aufnahmekanzlei des
Mannes, ich werde Sie dann zu den Kanzleien führen, wo zuerst ihre
Papiere und dann ihre Kenntnisse von Fachmännern überprüft werden
sollen — es wird nur eine ganz kurze Prüfung sein, niemand muss
sich fürchten. Dort werden Sie dann auch gleich aufgenommen werden
und die weitern Weisungen erhalten. Fangen wir also an. Hier, die
erste Kanzlei, ist wie schon die Aufschrift sagt, für Ingenieure
bestimmt. Ist vielleicht ein Ingenieur unter ihnen?" Josie
meldete sich. Er glaubte, gerade weil er keine Papiere hatte, müsse
er bestrebt sein, alle Formalitäten möglichst rasch durch zu jagen,
eine kleine Berechtigung sich zu melden hatte er auch, denn er hatte
ja Ingenieur werden wollen. Aber als die Burschen sahen, dass sich
Josie meldete, wurden sie neidisch und meldeten sich auch, alle
meldeten sich. Der Personalchef streckte sich in die Höhe und sagte
zu den Burschen: "Sie sind Ingenieure?" Da senkten sie alle
langsam die Hände, Josie dagegen bestand auf seiner ersten Meldung.
Der Personalchef sah ihn zwar ungläubig an, denn Josie schien ihm zu
kläglich angezogen und auch zu jung, um Ingenieur sein zu können,
aber er sagte doch nichts weiter, vielleicht aus Dankbarkeit, weil
Josie ihm, wenigstens seiner Meinung nach, die Bewerber hereingeführt
hatte. Er zeigte bloß einladend nach der Kanzlei und Josie ging hin,
während sich der Personalchef den andern zuwendete.
In
der Kanzlei für Ingenieure saßen an den zwei Seiten eines
rechtwinkligen Pultes zwei Herren und verglichen zwei große
Verzeichnisse, die vor ihnen lagen. Der eine las vor, der andere
strich in seinem Verzeichnis die vorgelesenen Namen an. Als Josie
grüßend vor sie hin trat, legten sie sofort die Verzeichnisse fort
und nahmen andere große Bücher vor, die sie aufschlugen. Der eine,
offenbar nur ein Schreiber, sagte: "Ich bitte um ihre
Legitimationspapiere." "Ich habe sie leider nicht bei mir",
sagte Josie. "Er hat sie nicht bei sich", sagte der
Schreiber zu dem andern Herrn und schrieb die Antwort gleich in sein
Buch ein. "Sie sind Ingenieur?" fragte dann der andere, der
der Leiter der Kanzlei zu sein schien. "Ich bin es noch nicht",
sagte Josie schnell, "aber —". "Genug", sagte
der Herr noch viel schneller, "dann gehören Sie nicht zu uns.
Ich bitte die Aufschrift zu beachten." Josie biss die Zähne
zusammen, der Herr musste es bemerkt haben, denn er sagte: "Es
ist kein Grund zur Unruhe. Wir können alle brauchen." Und er
winkte einem der Diener, die beschäftigungslos zwischen den
Barrieren herum gingen: "Führen Sie diesen Herrn zu der Kanzlei
für Leute mit technischen Kenntnissen." Der Diener fasste den
Befehl wörtlich auf und fasste Josie bei der Hand. Sie gingen
zwischen vielen Buden durch, in einer sah Josie schon einen der
Burschen, der bereits aufgenommen war und den Herren dort dankend die
Hand drückte. In der Kanzlei, in die Josie jetzt gebracht wurde,
war, wie Josie vorausgesehen hatte, der Vorgang ähnlich wie in der
ersten Kanzlei. Nur schickte man ihn von hier, da man hörte, dass er
eine Mittelschule besucht hatte, in die Kanzlei für gewesene
Mittelschüler. Als Josie dort aber sagte, er hätte eine europäische
Mittelschule besucht, erklärte man sich auch dort für unzuständig
und ließ ihn in die Kanzlei für europäische Mittelschüler führen.
Es war eine Bude am äußersten Rand, nicht nur kleiner, sondern
sogar niedriger als alle andern. Der Diener, der ihn hierher gebracht
hatte, war wütend über die lange Führung und die vielen
Abweisungen, an denen seiner Meinung nach Josie allein die Schuld
tragen musste. Er wartete nicht mehr die Fragen ab, sondern lief
gleich fort. Diese Kanzlei war wohl auch die letzte Zuflucht. Als
Josie den Kanzleileiter erblickte, erschrak er fast über die
Ähnlichkeit, die dieser mit einem Professor hatte, der
wahrscheinlich noch jetzt an der Realschule zuhause unterrichtete.
Die Ähnlichkeit bestand allerdings, wie sich gleich herausstellte,
nur in Einzelheiten, aber die auf der breiten Nase ruhende Brille,
der blonde, wie ein Schaustück gepflegte Vollbart, der sanft
gebeugte Rücken und die immer unerwartet hervorbrechende laute
Stimme hielten Josie noch einige Zeit in Staunen. Glücklicherweise
musste er auch nicht sehr aufmerken, denn es ging hier einfacher zu,
als in den andern Kanzleien. Es wurde zwar auch hier eingetragen,
dass seine Legitimationspapiere fehlten und der Kanzleileiter nannte
es eine unbegreifliche Nachlässigkeit, aber der Schreiber, der hier
die Oberhand hatte, ging schnell darüber hinweg und erklärte nach
einigen kurzen Fragen des Leiters, während sich dieser gerade zu
einer größern Frage anschickte, Josie für aufgenommen. Der Leiter
wandte sich mit offenem Mund gegen den Schreiber, dieser aber machte
eine abschließende Handbewegung, sagte: "Aufgenommen", und
trug auch gleich die Entscheidung ins Buch ein. Offenbar war der
Schreiber der Meinung, ein europäischer Mittelschüler zu sein, sei
schon etwas so Schmähliches, dass man es jedem, der es von sich
behaupte, ohne Weiteres glauben könne. Josie für seinen Teil hatte
nichts dagegen einzuwenden, er ging zu ihm hin und wollte ihm danken.
Es gab aber noch eine kleine Verzögerung, als man ihn jetzt nach
seinem Namen fragte. Er antwortete nicht gleich, er hatte eine Scheu,
seinen wirklichen Namen zu nennen und aufschreiben zu lassen. Bis er
hier auch nur die kleinste Stelle erhalten und zur Zufriedenheit
ausfüllen würde, dann mochte man seinen Namen erfahren, jetzt aber
nicht, allzu lang hatte er ihn verschwiegen, als dass er ihn jetzt
hätte verraten sollen. Er nannte daher, da ihm im Augenblick kein
anderer Name einfiel, nur den Rufnamen aus seinen letzten Stellungen:
"Negro". "Negro?" fragte der Leiter, drehte den
Kopf und machte eine Grimasse, als hätte Josie jetzt den Höhepunkt
der Unglaubwürdigkeit erreicht.
Auch
der Schreiber sah Josie eine Weile prüfend an, dann aber wiederholte
er "Negro" und schrieb den Namen ein. "Sie haben doch
nicht Negro aufgeschrieben", fuhr ihn der Leiter an. "Ja,
Negro", sagte der Schreiber ruhig und machte eine Handbewegung,
als habe nun der Leiter das Weitere zu veranlassen. Der Leiter
bezwang sich auch, stand auf und sagte: "Sie sind also für das
Theater von Oklahama —". Aber weiter kam er nicht, er konnte
nichts gegen sein Gewissen tun, setzte sich und sagte: "Er heißt
nicht Negro." Der Schreiber zog die Augenbrauen in die Höhe,
stand nun selbst auf und sagte: "Dann teile also ich Ihnen mit,
dass Sie für das Theater in Oklahama aufgenommen sind und dass man
Sie jetzt unserm Führer vorstellen wird." Wieder wurde ein
Diener gerufen, der Josie zur Schiedsrichtertribüne führte.
Unten
an der Treppe sah Josie den Kinderwagen und gerade kam auch das
Ehepaar herunter, die Frau mit dem Kind auf dem Arm. "Sind Sie
aufgenommen?" fragte der Mann, er war viel lebhafter als früher,
auch die Frau sah ihm lachend über die Schulter. Als Josie
antwortete, eben sei er aufgenommen worden und gehe zur Vorstellung,
sagte der Mann: "Dann gratuliere ich. Auch wir sind aufgenommen
worden, es scheint ein gutes Unternehmen zu sein, allerdings kann man
sich nicht gleich in alles einfinden, so ist es aber überall."
Sie sagten einander noch "Auf Wiedersehn" und Josie stieg
zur Tribüne hinauf. Er ging langsam, denn der kleine Raum oben
schien von Leuten überfüllt zu sein und er wollte sich nicht
eindrängen. Er blieb sogar stehen und überblickte das große
Rennfeld, das auf allen Seiten bis an ferne Wälder reichte. Ihn
erfasste Lust, einmal ein Pferderennen zu sehn, er hatte in Amerika
noch keine Gelegenheit dazu gefunden. In Europa war er einmal als
kleines Kind zu einem Rennen mitgenommen worden, konnte sich aber an
nichts anderes erinnern, als dass er von der Mutter zwischen vielen
Menschen, die nicht auseinander weichen wollten, durchgezogen worden
war. Er hatte also eigentlich überhaupt noch kein Rennen gesehn.
Hinter ihm fing eine Maschinerie zu schnarren an, er drehte sich um
und sah auf dem Apparat, auf dem beim Rennen die Namen der Sieger
veröffentlicht werden, jetzt folgende Aufschrift in die Höhe ziehn:
"Kaufmann Kalla mit Frau und Kind". Hier wurden also die
Namen der Aufgenommenen den Kanzleien mitgeteilt.
Gerade
liefen einige Herren lebhaft miteinander sprechend, Bleistifte und
Notizblätter in den Händen die Treppe herunter, Josie drückte sich
ans Geländer, um sie vorbei zu lassen und stieg, da nun oben Platz
geworden war, hinauf. In einer Ecke der mit Holzgeländern versehenen
Plattform — das Ganze sah wie das flache Dach eines schmalen Turmes
aus — saß, die Arme entlang der Holzgeländer ausgestreckt, ein
Herr, dem ein breites, weißes Seidenband mit der Aufschrift: Führer
der 10ten Werbetruppe des Theaters von Oklahama quer über die Brust
ging. Neben ihm stand auf einem Tischchen ein gewiss auch bei den
Rennen verwendeter telefonischer Apparat, durch den der Führer
offenbar alle notwendigen Angaben über die einzelnen Bewerber noch
vor der Vorstellung erfuhr, denn er stellte an Josie zunächst gar
keine Fragen, sondern sagte zu einem Herrn, der mit gekreuzten
Beinen, die Hand am Kinn, neben ihm lehnte: "Negro, ein
europäischer Mittelschüler." Und als sei damit der sich tief
verneigende Josie für ihn erledigt, sah er die Treppe hinunter, ob
nicht wieder jemand käme. Aber da niemand kam, hörte er manchmal
dem Gespräch, das der andere Herr mit Josie führte zu, blickte aber
meistens über das Rennfeld hin und klopfte mit den Fingern auf das
Geländer. Diese zarten und doch kräftigen, langen und schnell
bewegten Finger lenkten zeitweilig Josies Aufmerksamkeit auf sich,
trotzdem ihn der andere Herr genug in Anspruch nahm.
"Sie
sind stellungslos gewesen?" fragte dieser Herr zunächst. Diese
Frage, sowie fast alle andern Fragen, die er stellte, waren sehr
einfach, ganz unverfänglich und die Antworten wurden überdies nicht
durch Zwischenfragen nachgeprüft, trotzdem aber wusste ihnen der
Herr, durch die Art, wie er sie mit großen Augen aussprach, wie er
ihre Wirkung mit vorgebeugtem Oberkörper beobachtete, wie er die
Antworten mit auf die Brust gesenktem Kopfe aufnahm und hier und da
laut wiederholte, eine besondere Bedeutung zu geben, die man zwar
nicht verstand, deren Ahnung aber vorsichtig und befangen machte. Es
kam öfters vor, dass es Josie drängte, die gegebene Antwort zu
widerrufen und durch eine andere, die vielleicht mehr Beifall finden
würde, zu ersetzen, aber er hielt sich doch immer noch zurück, denn
er wusste, einen wie schlechten Eindruck ein derartiges Schwanken
machen musste und wie überdies die Wirkung der Antworten eine meist
unberechenbare war. Überdies aber schien ja seine Aufnahme schon
entschieden zu sein, dieses Bewusstsein gab ihm Rückhalt.
Die
Frage, ob er stellungslos gewesen sei, beantwortete er mit einem
einfachen "Ja". "Wo waren Sie zuletzt angestellt?"
fragte dann der Herr. Josie wollte schon antworten, da hob der Herr
den Zeigefinger und sagte noch einmal: "Zuletzt!" Josie
hatte auch schon die erste Frage richtig verstanden, unwillkürlich
schüttelte er die letzte Bemerkung als beirrend mit dem Kopfe ab und
antwortete: "In einem Büro." Das war noch die Wahrheit,
würde aber der Herr eine nähere Auskunft über die Art des Büros
verlangen, so musste er lügen. Aber das tat der Herr nicht, sondern
stellte die überaus leicht ganz wahrheitsgemäß zu beantwortende
Frage: "Waren Sie dort zufrieden?" "Nein", rief
Josie ihm fast in die Rede fallend. Bei einem Seitenblick bemerkte
Josie, dass der Führer ein wenig lächelte, Josie bereute die
unbedachte Art seiner letzten Antwort, aber es war zu verlockend
gewesen, das Nein hinaus zu schreien, denn während seiner ganzen,
letzten Dienstzeit hatte er nur den großen Wunsch gehabt, irgendein
fremder Dienstgeber möge einmal eintreten und diese Frage an ihn
richten. Seine Antwort konnte aber noch einen andern Nachteil
bringen, denn der Herr konnte nun fragen, warum er nicht zufrieden
gewesen sei. Statt dessen fragte er jedoch: "Zu was für einen
Posten fühlen Sie sich geeignet?" Diese Frage enthielt
möglicherweise wirklich eine Falle, denn wozu wurde sie gestellt, da
Josie doch schon als Schauspieler aufgenommen war; trotzdem er das
aber erkannte, konnte er sich dennoch nicht zu der Erklärung
überwinden, er fühle sich für den Schauspielerberuf besonders
geeignet. Er wich daher der Frage aus und sagte auf die Gefahr hin,
trotzig zu erscheinen: "Ich habe das Plakat in der Stadt gelesen
und da dort stand, dass man jeden brauchen kann, habe ich mich
gemeldet." "Das wissen wir", sagte der Herr, schwieg
und zeigte dadurch, dass er auf seiner frühern Frage beharre. "Ich
bin als Schauspieler aufgenommen", sagte Josie zögernd, um den
Herren die Schwierigkeit, in die ihn die letzte Frage gebracht hatte,
begreiflich zu machen. "Das ist richtig", sagte der Herr
und verstummte wieder. "Nun", sagte Josie und die ganze
Hoffnung, einen Posten gefunden zu haben, kam ins Wanken, "ich
weiß nicht, ob ich zum Theater spielen geeignet bin. Ich will mich
aber anstrengen und alle Aufträge auszuführen suchen." Der
Herr wandte sich dem Leiter zu, beide nickten, Josie schien richtig
geantwortet zu haben, er fasste wieder Mut und erwartete aufgerichtet
die nächste Frage. Die lautete: "Was wollten Sie denn
ursprünglich studieren?" Um die Frage genau zu bestimmen — an
der genauen Bestimmung lag dem Herrn immer sehr viel — fügte er
hinzu: "In Europa, meine ich." Hierbei nahm er die Hand vom
Kinn und machte eine schwache Bewegung, als wolle er damit
gleichzeitig andeuten, wie ferne Europa und wie bedeutungslos die
dort einmal gefassten Pläne seien. Josie sagte: "Ich wollte
Ingenieur werden." Diese Antwort widerstrebte ihm zwar, es war
lächerlich, im vollen Bewusstsein seiner bisherigen Laufbahn in
Amerika die alte Erinnerung, dass er einmal habe Ingenieur werden
wollen, hier wieder aufzufrischen — wäre er es denn selbst in
Europa jemals geworden? — aber er wusste gerade keine andere
Antwort und sagte deshalb diese. Aber der Herr nahm es ernst, wie er
alles ernst nahm. "Nun, Ingenieur", sagte er, "können
Sie wohl nicht gleich werden, vielleicht würde es Ihnen aber
vorläufig entsprechen, irgendwelche niedrigen technische Arbeiten
auszuführen." "Gewiss", sagte Josie, er war sehr
zufrieden, er wurde zwar, wenn er das Angebot annahm, aus dem
Schauspielerstand unter die technischen Arbeiter geschoben, aber er
glaubte tatsächlich, sich bei dieser Arbeit besser bewähren zu
können. Übrigens, dies wiederholte er sich immer wieder, es kam
nicht so sehr auf die Art der Arbeit an, als vielmehr darauf, sich
überhaupt irgendwo dauernd festzuhalten. "Sind Sie denn kräftig
genug für schwerere Arbeit?" fragte der Herr. "Oh ja",
sagte Josie. Hierauf ließ der Herr Josie näher zu sich herankommen
und befühlte seinen Arm. "Es ist ein kräftiger Junge",
sagte er dann, indem er Josie am Arm zum Führer hinzog. Der Führer
nickte lächelnd, reichte, ohne sich übrigens aus seiner Ruhelage
aufzurichten, Josie die Hand und sagte: "Dann sind wir also
fertig. In Oklahama wird alles noch überprüft werden. Machen Sie
unserer Werbetruppe Ehre!" Josie verbeugte sich zum Abschied, er
wollte sich dann auch von dem andern Herren verabschieden, dieser
aber spazierte schon, als sei er mit seiner Arbeit vollständig
fertig, das Gesicht in die Höhe gerichtet auf der Plattform auf und
ab. Während Josie hinunterstieg, wurde zur Seite der Treppe auf der
Anzeigetafel die Aufschrift hochgezogen: "Negro, technischer
Arbeiter". Da alles hier seinen ordentlichen Gang nahm, hätte
es Josie nicht mehr so sehr bedauert, wenn auf der Tafel sein
wirklicher Name zu lesen gewesen wäre. Es war alles sogar überaus
sorgfältig eingerichtet, denn am Fuß der Treppe wurde Josie schon
von einem Diener erwartet, der ihm eine Binde um den Arm festmachte.
Als Josie dann den Arm hob, um zu sehn, was auf der Binde stand, war
dort der ganz richtige Aufdruck "Technischer Arbeiter".
Wohin
Josie nun aber geführt werden mochte, zuerst wollte er doch Fanny
melden, wie glücklich alles abgelaufen war. Aber zu seinem Bedauern
erfuhr er vom Diener, dass die Engel ebenso wie auch die Teufel
bereits nach dem nächsten Bestimmungsort der Werbetruppe abgereist
seien, um dort die Ankunft der Truppe für den nächsten Tag bekannt
zu machen. "Schade", sagte Josie, es war die erste
Enttäuschung, die er in diesem Unternehmen erlebte, "ich hatte
eine Bekannte unter den Engeln." "Sie werden sie in
Oklahama wiedersehn", sagte der Diener, "nun aber kommen
Sie, Sie sind der letzte." Er führte Josie an der hintern Seite
des Podiums entlang, auf dem früher die Engel gestanden waren, jetzt
waren dort nur noch die leeren Postamente. Josies Annahme aber, dass
ohne die Musik der Engel mehr Stellensuchende kommen würden, erwies
sich nicht als richtig, denn vor dem Podium standen jetzt überhaupt
keine Erwachsenen mehr, nur paar Kinder kämpften um eine lange,
weiße Feder, die wahrscheinlich aus einem Engelsflügel gefallen
war. Ein Junge hielt sie in die Höhe, während die andern Kinder mit
einer Hand seinen Kopf nieder drücken wollten und mit der andern
nach der Feder langten.
Josie
zeigte auf die Kinder, der Diener aber sagte ohne hinzusehn: "Kommen
Sie rascher, es hat sehr lange gedauert, ehe Sie aufgenommen wurden.
Man hatte wohl Zweifel?" "Ich weiß nicht", sagte
Josie erstaunt, er glaubte es aber nicht.
Immer,
selbst bei den klarsten Verhältnissen, fand sich doch irgendjemand,
der seinem Mitmenschen Sorgen machen wollte. Aber vor dem
freundlichen Anblick der großen Zuschauertribüne, zu der sie jetzt
kamen, vergaß Josie bald die Bemerkung des Dieners. Auf dieser
Tribüne war nämlich eine ganze, lange Bank mit einem weißen Tuch
gedeckt, alle Aufgenommenen saßen mit dem Rücken zur Rennbahn auf
der nächsttieferen Bank und wurden bewirtet. Alle waren fröhlich
und aufgeregt, gerade als sich Josie unbemerkt als Letzter auf die
Bank setzte, standen viele mit erhobenen Gläsern auf und einer hielt
einen Trinkspruch auf den Führer der zehnten Werbetruppe, den er den
"Vater der Stellungssuchenden" nannte. Jemand machte darauf
aufmerksam, dass man ihn auch von hier aus sehen könne und
tatsächlich war die Schiedsrichtertribüne mit den zwei Herren in
nicht allzu großer Entfernung sichtbar. Nun schwenkten alle ihre
Gläser in dieser Richtung, auch Josie fasste das vor ihm stehende
Glas, aber so laut man auch rief und so sehr man sich bemerkbar zu
machen suchte, auf der Schiedsrichtertribüne deutete nichts darauf
hin, dass man die Ovation bemerkte oder wenigstens bemerken wolle.
Der Führer lehnte in der Ecke wie früher und der andere Herr stand
neben ihm, die Hand am Kinn.
Ein
wenig enttäuscht setzte man sich wieder, hier und da drehte sich
noch einer nach der Schiedsrichtertribüne um, aber bald beschäftigte
man sich nur mit dem reichlichen Essen; großes Geflügel, wie es
Josie noch nie gesehen hatte, mit vielen Gabeln in dem knusprig
gebratenen Fleisch, wurde herum getragen, Wein wurde immer wieder von
den Dienern eingeschenkt — man merkte es kaum, man war über seinen
Teller gebückt und in den Becher fiel der Strahl des roten Weines —
und wer sich an der allgemeinen Unterhaltung nicht beteiligen wollte,
konnte Bilder von Ansichten des Theaters von Oklahama besichtigen,
die an einem Ende der Tafel aufgestapelt waren und von Hand zu Hand
gehen sollten. Doch kümmerte man sich nicht viel um die Bilder und
so geschah es, dass bei Josie, der der Letzte war, nur ein Bild
ankam. Nach diesem Bild zu schließen mussten aber alle sehr
sehenswert sein. Dieses Bild stellte die Loge des Präsidenten der
Vereinigten Staaten dar. Beim ersten Anblick konnte man denken, es
sei nicht eine Loge, sondern die Bühne, so weit geschwungen ragte
die Brüstung in den freien Raum. Diese Brüstung war ganz aus Gold,
in allen ihren Teilen. Zwischen den wie mit der feinsten Schere
ausgeschnittenen Säulchen waren nebeneinander Medaillons früherer
Präsidenten angebracht, einer hatte eine auffallend gerade Nase,
aufgeworfene Lippen und unter gewölbten Lidern starr gesenkte Augen.
Rings um die Loge, von den Seiten und von der Höhe, kamen Strahlen
von Licht; weißes und doch mildes Licht enthüllte förmlich den
Vordergrund der Loge, während ihre Tiefe hinter rotem, unter vielen
Tönungen sich faltendem Samt, der an der ganzen Umrandung nieder
fiel und durch Schnüre gelenkt wurde, als eine dunkle rötlich
schimmernde Leere erschien. Man konnte sich in dieser Loge kaum
Menschen vorstellen, so selbstherrlich sah alles aus. Josie vergaß
das Essen nicht, sah aber doch oft die Abbildung an, die er neben
seinen Teller gelegt hatte.
Schließlich
hätte er doch noch sehr gern wenigstens eines der übrigen Bilder
angesehn, selbst holen wollte er es sich aber nicht, denn ein Diener
hatte die Hand auf den Bildern liegen und die Reihenfolge musste wohl
gewahrt werden; er suchte also nur die Tafel zu überblicken und
festzustellen, ob sich nicht doch noch ein Bild nähere. Da bemerkte
er staunend — zuerst glaubte er es gar nicht — unter den am
tiefsten zum Essen gebeugten Gesichtern ein gut bekanntes —
Giacomo. Gleich lief er zu ihm hin. "Giacomo", rief er.
Dieser, schüchtern wie immer, wenn er überrascht wurde, erhob sich
vom Essen, drehte sich in dem schmalen Raum zwischen den Bänken,
wischte mit der Hand den Mund, war dann aber sehr froh, Josie zu
sehen, bat ihn sich neben ihn zu setzen oder bot sich an zu Josies
Platz hinüber zu kommen, sie wollten einander alles erzählen und
immer beisammen bleiben. Josie wollte die andern nicht stören, jeder
sollte deshalb vorläufig seinen Platz behalten, das Essen werde bald
zu Ende sein und dann wollten sie natürlich immer zueinander halten.
Aber Josie blieb doch noch bei Giacomo, nur um ihn anzusehn. Was für
Erinnerungen an vergangene Zeiten! Wo war die Oberköchin? Was machte
Therese? Giacomo selbst hatte sich in seinem Äußern fast gar nicht
verändert, die Voraussage der Oberköchin, dass er in einem halben
Jahr ein knochiger Amerikaner werden müsse, war nicht eingetroffen,
er war zart wie früher, die Wangen eingefallen wie früher,
augenblicklich allerdings waren sie gerundet, denn er hatte im Mund
einen übergroßen Bissen Fleisch, aus dem er die überflüssigen
Knochen langsam heraus zog, um sie dann auf den Teller zu werfen. Wie
Josie an seiner Armbinde ablesen konnte, war auch Giacomo nicht als
Schauspieler, sondern als Liftjunge aufgenommen, das Theater von
Oklahama schien wirklich jeden brauchen zu können.
In
den Anblick Giacomos verloren, blieb aber Josie allzu lange von
seinem Platze fort, eben wollte er zurückkehren, da kam der
Personalchef, stellte sich auf eine der höher gelegenen Bänke,
klatschte in die Hände und hielt eine kleine Ansprache, während die
meisten aufstanden und die Sitzengebliebenen, die sich nicht vom
Essen trennen konnten, durch Stöße der andern schließlich auch zum
Aufstehn gezwungen wurden. "Ich will hoffen", sagte er,
Josie war inzwischen schon auf den Fußspitzen zu seinem Platz zurück
gelaufen, "dass Sie mit unserm Empfangsessen zufrieden waren. Im
Allgemeinen lobt man das Essen unserer Werbetruppe. Leider muss ich
die Tafel bereits aufheben, denn der Zug, der Sie nach Oklahama
bringen soll, fährt in fünf Minuten. Es ist zwar eine lange Reise,
Sie werden aber sehn, dass für Sie gut gesorgt ist. Hier stelle ich
ihnen den Herrn vor, der ihren Transport führen wird und dem Sie
Gehorsam schulden." Ein magerer, kleiner Herr erkletterte die
Bank, auf welcher der Personalchef stand, nahm sich kaum Zeit, eine
flüchtige Verbeugung zu machen, sondern begann sofort mit
ausgestreckten, nervösen Händen zu zeigen, wie sich alle sammeln,
ordnen und in Bewegung setzen sollten. Aber zunächst folgte man ihm
nicht, denn derjenige aus der Gesellschaft, der schon früher eine
Rede gehalten hatte, schlug mit der Hand auf den Tisch und begann
eine längere Dankrede, trotzdem — Josie wurde ganz unruhig —
eben gesagt worden war, dass der Zug bald abfahre. Aber der Redner
achtete nicht einmal darauf, dass auch der Personalchef nicht
zuhörte, sondern dem Transportleiter verschiedene Anweisungen gab,
er legte seine Rede groß an, zählte alle Gerichte auf, die
aufgetragen worden waren, gab über jedes sein Urteil ab und schloss
dann zusammenfassend mit dem Ausruf: "Geehrte Herren, so gewinnt
man uns." Alle außer den Angesprochenen lachten, aber es war
doch mehr Wahrheit als Scherz.
Diese
Rede büßte man überdies damit, dass jetzt der Weg zur Bahn im
Laufschritt gemacht werden musste. Das war aber auch nicht sehr
schwer, denn — Josie bemerkte es erst jetzt — niemand trug ein
Gepäckstück — das einzige Gepäckstück war eigentlich der
Kinderwagen, der jetzt an der Spitze der Truppe vom Vater gelenkt wie
haltlos auf und nieder sprang. Was für besitzlose, verdächtige
Leute waren hier zusammengekommen und wurden doch so gut empfangen
und behütet! Und dem Transportleiter mussten sie geradezu ans Herz
gelegt sein. Bald fasste er selbst mit einer Hand die Lenkstange des
Kinderwagens und erhob die andere um die Truppe aufzumuntern, bald
war er hinter der letzten Reihe, die er antrieb, bald lief er an den
Seiten entlang, fasste einzelne Langsamere aus der Mitte ins Auge und
suchte ihnen mit schwingenden Armen darzustellen, wie sie laufen
müssten.
Als
sie auf dem Bahnhof ankamen, stand der Zug schon bereit. Die Leute
auf dem Bahnhof zeigten einander die Truppe, man hörte Ausrufe wie
"Alle diese gehören zum Theater von Oklahama", das Theater
schien viel bekannter zu sein, als Josie angenommen hatte, allerdings
hatte er sich um Theaterdinge niemals gekümmert. Ein ganzer Waggon
war eigens für die Truppe bestimmt, der Transportleiter drängte zum
Einsteigen mehr als der Schaffner. Er sah zuerst in jede einzelne
Abteilung, ordnete hier und da etwas und erst dann stieg er selbst
ein. Josie hatte zufällig einen Fensterplatz bekommen und Giacomo
neben sich gezogen. So saßen sie aneinander gedrängt und freuten
sich im Grunde beide auf die Fahrt; so sorgenlos hatten sie in
Amerika noch keine Reise gemacht. Als der Zug zu fahren begann,
winkten sie mit den Händen aus dem Fenster, während die Burschen
ihnen gegenüber einander anstießen und es lächerlich fanden.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen